Lust, Rausch und Crystal Meth: Buchrezension
Chemsex-Therapie-Buch liegt nun in deutscher Übersetzung vor
Fawcett, David (2022): Lust, Rausch und Crystal Meth. Wege aus dem Chemsex-Konsum. Psychiatrie-Verlag GmbH, Köln (Übersetzung Karl Anton Gerber)
Anhand statistischer Erhebungen können ca. 10% der schwulen und bisexuellen Männer in Deutschland dem „Chemsex“ zugeordnet werden. Wird der Konsum psychoaktiver Substanzen (z.B. im Partykontext) addiert und zusätzlich um Alkohol erweitert, so lässt sich festhalten, dass ca. 1/3 aller schwulen und bisexuellen Männer einen mehr oder weniger problematischen Substanzkonsum betreiben (Marcus/Schink 2022). Das Konsumverhalten scheint sich dabei in der COVID-Pandemie nochmal verändert zu haben – soweit, dass Szenebeobachter dieses gar als „teilweise suizidal“ beschreiben. Die Erklärungsmuster sind vielschichtig und beschreiben wechselseitig wirkende individuelle und strukturelle Kontexte. Um angemessene Hilfsangebote zu machen, müssen diese Hintergründe erkannt, verstanden und bearbeitet werden, sowohl auf individueller wie auch auf struktureller Ebene.
Die gerade erschienene deutsche Übersetzung des Buches „Lust, Men and Meth“ (amerikanische Originalausgabe 2016) von David Michael Fawcett ist dabei durchaus erkenntnisreich. Der schwule Autor blickt damit auf eine jahrzehntelange Erfahrung als Sucht- und Sexualtherapeut zurück und beschreibt die Hintergründe des Drogengebrauchs bei schwulen und bisexuellen Männern. Gleichzeitig arbeitet er auch die spezifischen Herausforderungen der Entwöhnung sowie Wege zu körperlicher, emotionaler und sexueller Wiederherstellung heraus.
Übersetzt wurde die Originalausgabe von einem ehemaligen User, Karl Anton Gerber. Dieser ist überzeugt davon, dass ihm unter anderem das Lesen dieses Buches, welches ihm in seiner Rehabilitation empfohlen wurde, und die dadurch ermöglichte Reflexion und Selbsterkenntnis, bei seinem „Weg aus dem Konsum“ geholfen hat.
(Gerber, S. 14)„Mein ganzes Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung ist komplett durch die Substanz (Crystal Meth) und durch den Substanzkonsum und die Konsumerlebnisse konterkariert worden. Das war auch eine ziemlich enttäuschende Erfahrung, und Motivation, zu sagen, ich steige da aus“ .
Eingeleitet wird die deutsche Übersetzung durch ein Interview mit Anne Iking und Marcus Pfliegensdörfer aus der Salus Klinik Hürth. Iking und ihrem Team kommt der Verdienst zu, ein spezifisches und außerordentlich erfolgreiches Rehabilitationsprogramm für MSM/Chemsex-User entwickelt zu haben. In der Einleitung wird deutlich, welche spezifischen biographischen und strukturellen Kontexte sie schon bei der Anamnese, aber auch im Verlauf der Therapien bei MSM im Vergleich zu ihren heterosexuellen KlientInnen vorgefunden haben.
(D.F., S. 37)„Methamphetamin ist in vielerlei Hinsicht die perfekte Droge für schwule Männer“ .
So lautet ein erstes Fazit des Autors. Anhand ausführlicher Fallbeispiele werden die fachlichen Überlegungen des Autors in drei Teile gegliedert. Zunächst geht er auf die (bewusstseinsverändernden) Wirkweisen von Methamphetamin und daran anschließend auch auf die Rolle von Zerstreuung, Erregung und Abenteuerlust ein sowie auf die Frage, welche spezifischen Umstände nicht ausschließlich in Bezug auf ein therapeutisches Setting zu betrachten sind: „Trotz der offensichtlich negativen Folgen bietet Methamphetamin für manche schwulen Männer offenbar die Illusion eines Heilmittels für ihre Sorgen: die Flucht vor emotionalem Schmerz, die Überwindung von Hemmungen, die Entfesselung sexuellen Verlangens und die Suche nach sozialer Zugehörigkeit“ (S. 75).
Im zweiten Teil wird zunächst dargestellt, wie sexuelles Verlangen entsteht, sich Vorlieben, Skripte und Motive herausbilden, Selbstwertgefühl entsteht, aber auch beschädigt werden kann, wie „anerzogene“ Scham im Unterbewusstsein wirkt und welche Ambivalenzen die schwule Sexualität dabei begleiten. Darauf aufbauend wird die potenzielle Veränderung der zu Beginn als befreiend erlebten Sexualität herausgearbeitet: „Ungeklärt ist dabei, ob die Wirkung von Methamphetamin derart enthemmt, dass schon existierende, aber unbewusste, dunkle Fantasien ins Bewusstsein drängen, oder ob die Droge die erotischen Fantasien chemisch verändert und neue, extrem verstörende Szenarien, entstehen lässt“ (S. 107).
Der (therapeutische) Prozess der „Entwöhnung“ und Entkoppelung von Chems und Sexualität wird im dritten Teil beschrieben. Dabei wird deutlich, dass User viele und große Aufgaben bewältigen müssen, um in einen Alltag ohne Chems zurückkehren zu können. Diese umfassen beispielsweise die Aufgabe drogeninduzierter Verhaltensmuster, das Erlernen des Umgangs mit den eigenen Gefühlen, das Abarbeiten unerledigter Aufgaben und das Angehen der durch den Konsum betäubten oder abgelenkten Probleme, wie Scham, geringes Selbstwertgefühl oder soziale Isolation und Einsamkeit. Zu dem Prozess gehöre es zudem, sich mit vorhandenen Grundüberzeugungen („Wunden“), die schon in der Kindheit „geprägt“ wurden, auseinanderzusetzen und diese abzustreifen: „`Ich kann mein wahres Ich nicht offen zeigen´. Schwule Männer tragen diese Überzeugungen oft von klein auf in sich. Sie ahnen intuitiv, dass ihre gleichgeschlechtliche Anziehung für falsch, krank oder sogar gefährlich gehalten wird, noch bevor sie sich selbst bewusst sind, dass diese Gefühle auch eine sexuelle Komponente haben“ (S. 143).
Zum Ende hin geht der Autor auf die Begleitung der Chemsex-User ein und beschreibt, wie vorhandene Ressourcen aktiviert werden können. Das Buch vermittelt dazu eine Reihe von „Skills“, welche helfen sollen, Wege zur Abstinenz zu ermöglichen. Dazu gehöre nicht nur die körperliche Befreiung vom Suchtmittel, sondern auch die emotionale Neufindung, und schließlich eine Rückkehr in ein Leben jenseits des Chemsex-Kontexts.
Im Epilog empfiehlt Fawcett insgesamt eine ressourcenorientierte Gesundheitsförderung für schwule Männer. Es brauche eine Veränderung der Selbstwahrnehmung: „Denn natürlich haben schwule Männer Probleme. Aber wir übersehen dabei allzu leicht die vielen Stärken und Ressourcen, die schwule Männer mitbringen und immer schon gehabt haben“ (S. 183/184).
Im Anhang finden sich schlussendlich noch Verweise und Adressen zu Selbsthilfeangeboten, Beratungsstellen und klinischen Angeboten, zusätzlich zu einem Glossar zu Substanzen, die (nicht nur) beim „Chemsex“ eine Rolle spielen.
Kritik
Auch wenn die Lektüre grundsätzlich sehr empfehlenswert ist, irritiert der Text m.M.n. doch an der einen oder anderen Stelle. Dies beispielsweise an dem Punkt, an dem sich der Autor darüber auslässt, welch „unglaubliches Verhalten“ sich (nicht nur) beim Chemsex für ihn auftue: In schwulen Datingportalen würde nicht nur „offen nach Bareback“ gefragt, sondern es kämen auch„versaute Praktiken“ (Rimming!), welche „unsafe“ und „erniedrigend“ seien, nicht selten vor, wobei „wahllos“, „verzweifelt“ und „zwanghaft“ nach sexuellen Partnern für „außergewöhnlichen und rauen“ Sex gesucht werden würde (S. 54ff.). Es ist hierbei verwunderlich, dass Fawcett mit diesen Beschreibungen schwule Sexualität nicht nur be- sondern regelrecht abwertet und beschämt. Dabei ist doch die Beschämung sicherlich auch einer der Gründe, warum schwule Männer bei ihrer Suche nach Nähe und Sexualität Alkohol oder andere Bewusstseins-verändernde Substanzen konsumieren, wie der Autor an anderer Stelle selbst treffend analysiert.
Etwas ärgerlich ist auch, dass altbekannte und nicht bewiesene Stereotypen aufgegriffen werden, wie z.B. in dem Hinweis, dass „Methamphetamin signifikant verantwortlich für die hohe Zahl der HIV-Infektionen und anderer sexuell-übertragbarer Krankheiten“ (S. 26, aber auch S. 83: „Der neue HIV-Cocktail“) sei. Fawcett verweist dabei auf einige anfangs der 2000er Jahre durchgeführte, von den staatlichen Aids-Gesundheitsbehörden finanzierte und z.T. durch Moralpanik geprägte Studien, die längst als überholt gelten können. Ist ihm entgangen, dass die übergroße Mehrzahl der HIV-positiven Menschen in westlichen Gefilden durch ihre medikamentösen Therapien nicht mehr infektiös ist, oder fehlinterpretiert er die Tatsache, dass statistisch überproportional viele HIV-positive schwule Männer im „Chemsex“-Kontext anzutreffen sind? An anderer Stelle liefert er dafür wiederum einen auch von mir und anderen als relevant erkannten Faktor, nämlich den teilweise „gnadenlosen Umgang innerhalb der schwulen Subkultur“ (S. 37), der mit Stigmatisierung einhergeht: HIV-positive schwule Männer berichten regelmäßig, dass sie innerhalb ihrer Subkultur, trotz des fehlenden HIV-Übertragungsrisikos, nicht etwa als „attraktive Partner“ (Bernd Aretz), sondern weiterhin als „gefährlich“ gelten. Bei einem „Chemsex-Treffen“ scheinen diese feinen Unterschiede aufgehoben (Rusi Jaspal), deshalb können diese auch als „Safe Spaces“ für alle Arten von schwulen Männern beschrieben werden, die jenseits dieser und anderer Ausgrenzungserfahrungen, vermittelt durch die „Enthemmung“ der dort genommenen üblichen Substanzen, ungezwungen bzw. ohne Scham miteinander und in diesem Sinne gemäß Mäder u. Nadaff Selbst-ermächtigend (2020) in Kontakt treten können.
Trotz der Einschränkungen ein sehr lesenswertes und besonderes Buch. Es gibt tiefe Einblicke in Lebenswelten vieler schwuler Männer, und ermöglicht letztlich Laien und Praktikern ein notwendiges, vorurteilfreies Verstehen der Chemsex-Praxis.
Dirk Sander
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