Wenn der Konsum aus dem Ruder läuft: Beratungs- und Gruppenangebote zu ChemSex

Beratungs- und Gruppenangebote zum Thema Chemsex gibt es mittlerweile in mehreren Städten. Werner Bock hat bei Malte Raabe (Psychologe bei Mann-O-Meter Berlin) und Peter Müllerlei (Suchtberater bei derAidshilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth) nachgefragt, wie dieses Angebote vor Ort konkret umgesetzt werden.

„ChemSex“ meint den Gebrauch von luststeigernden Substanzen beim Sex – insbesondere der gemeinsame Konsum von Crystal Meth („Tina“), GBL/GHB („G“) oder Mephedron auf Sexpartys in queeren Szenen. 

Drogen und Alkohol wurden schon immer in sexuellen Kontexten eingesetzt. Crystal Meth, Mephedron und GHB/GBL jedoch führen zu einem ganz speziellen, sexuell enthemmendem „High“. So beschrieb es David Stuart, der den Begriff „ChemSex geprägt hat und selbst jahrelang „Chems“ konsumiert hat.

Menschen die ChemSex praktizieren sind bezüglich Alter, Herkunft, sozialem und beruflichem Hintergrund extrem gemischt.

Zwei Seiten einer Medaille

Durch die Drogen fühlen sich Menschen sehr selbstsicher und unverletzlich, der Sex wird als „unbeschreiblich geil“ beschrieben und Berührungen werden intensiver wahrgenommen. Hemmschwellen werden herabgesetzt. Sexuelle Praktiken und Phantasien, die oft mit Scham belegt sind und die man sich ohne Drogen nicht, oder zumindest nicht so einfach, auszuleben traut, können ausgelebt werden. Auch das Gefühl von Verbundenheit wird durch die Drogen intensiviert. ChemSex-Praktizierende verfügen durch den Konsum über eine Energie und Ausdauer, die sie über mehrere Tage wachhält.

Kehrseite der Medaille sind die mögliche Nebenwirkungen der Substanzen. Diese reichen von Gemütsschwankungen und Abgeschlagenheit – bis hin zu Halluzinationen oder dem Gefühl, verfolgt zu werden. Der Konsum kann zudem zu körperlichen Beschwerden, wie Entzugserscheinungen, Schweißausbrüchen, Herzrasen und Schlafstörungen führen.

In der Schulmedizin werden Menschen, die Drogen nehmen, oft als „Suchtkranke“ bezeichnet. Stephan Niederwieser, der das Konzept der ChemSex-Gruppen mitentwickelt hat, geht davon aus, dass Sex-und/oder Drogensucht eher Bewältigungsstrategien sind. Er sieht sie als Versuch, Empfindungen, Zustände und Erfahrungen erträglich zu machen, von denen Betroffene glauben, sie ohne Sex und Drogen nicht aushalten zu können. Internalisierte Homonegativität, Minderheitenstress, Body-Shaming, Perfektionismus oder übertriebenes Leistungsdenken können hier eine Rolle spielen. Bei ChemSex geht es also nicht nur um Lust und Hedonismus, die Gründe dafür sind wesentlich vielfältiger.

Hilfe, wenn der Konsum aus dem Ruder läuft

Suchten schwule Männer wegen ChemSex nach Hilfsangeboten, war es sehr schwierig, eine passende Anlaufstelle zu finden. Klassische Drogenberatungsstellen hatten zwar Kompetenzen im Themenbereich Drogen und Sucht, aber von der schwulen Lebenswelt keine Ahnung. Aidshilfen wiederum kannten die schwule Lebenswelt, es fehlte aber nicht wenigen Aidshilfen die Expertise im Umgang mit Suchtproblematiken.

2019 initiierte die Deutsche Aidshilfe das Modellprojekt „quapsss“. Dort wurde ein Konzept für ein Gruppenangebot für MSM* erstellt, die ChemSex praktizieren und ihre Lebensumstände verbessern wollen. Inzwischen gibt es solche Gruppen oder Beratungsangebote für MSM*, die ChemSex praktizieren in verschiedenen Städten.

Bei Mann-o-Meter in Berlin gibt es aktuell drei Gruppen:

  • Eine Gruppe für MSM* mit ChemSex-Erfahrungen, die abstinent leben und diese Lebensweise absichern möchten,
  • Eine Gruppe für MSM* mit ChemSex-Erfahrungen, die eine Abstinenzentscheidunggetroffen haben und bereits erste Schritte in diese Richtung gegangen sind und
  • Eine Gruppe für MSM*, die keine Abstinenz von Substanzen beabsichtigen, nur auf den Konsum bestimmter Drogen verzichten wollen oder die Häufigkeit des Drogengebrauchs vermindern wollen. Hier geht es vornehmlich um den Austausch über die Erfahrungen mit ChemSex und darum, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse besser kennenzulernen. 

In Nürnberg gestaltet es sich schwieriger, eine ChemSex-Gruppe zu etablieren, obwohl ChemSex nicht nur ein Phänomen in Metropolen ist. „Auch in Nürnberg gibt es ChemSex-Partys“ sagt Peter Müllerlei „und damit theoretisch auch Bedarf für ein Gruppenangebot“. Die Szene in Nürnberg ist allerdings überschaubarer als in Berlin – und die Angst vor Entdeckung und Erkanntwerden vermutlich größer. „Wenn X auch in der Gruppe ist, dann kann ich nicht kommen.“ Bekommt Peter schon mal zu hören, wenn er Klienten auf das Gruppenangebot hinweist.

Zum Selbstverständnis der Gruppen gehört eine wertschätzende und akzeptierende Haltung gegenüber allen Teilnehmenden, deren Lebenswelten und Erfahrungen. Es geht darum, einen Ort zu schaffen, an dem sich die Teilnehmenden willkommen fühlen und nicht bewertet werden.

Wie laufen Gruppentreffen ab?

Die Gruppentreffen finden einmal wöchentlich statt, die Gruppe läuft über mehrere Monate, meist über ein Jahr lang. In den Treffen werden aktuelle Themen besprochen, die die Teilnehmer gerade beschäftigen. Manchen Themen werden auch gesetzt. Es kann zum Beispiel um das Thema „Emotionen“ gehen, also Gespräche darüber, die eigenen Gefühle und Wünsche besser wahrnehmen und verstehen zu können. So kann auch der Frage nachgegangen werden, was  es so schwer macht, eigene Wünsche in Beziehungen zu kommunizieren und wie gut ChemSex tatsächlich eine gute „Krücke“ darstellt, um Kontakte aufzubauen und sexuelle Wünsche auszuleben.

Sex und Drogen

Es ist wenig überraschend, dass in der Gruppe über Sex gesprochen wird. Warum haben wir überhaupt Sexualität? Geht es einfach um Abenteuer oder um Anerkennung, Nähe, Hingabe? Und wie geht schwuler Sex? Ist es so wie im Porno: Küssen, Blasen, Ficken? Muss ich immer Lust haben und können? Muss ich immer geil sein? Oder ist für mich guter Sex etwas ganz Anderes?

Stigma und Illegalität des Substanzkonsums tragen dazu bei, dass User im Alltag meist keine Möglichkeit haben, über ihre Ängste, ihre Hilflosigkeit oder den Kontrollverlust zu reflektieren, wenn der Drogenkonsum aus dem Ruder läuft. Genau dafür bieten die Gruppen Raum. „In der Gruppe teilen wir Erfolge und Rückfälle, wir erleben höchste Freude und auch Verzweiflung“ berichtet Malte. Die regelmäßigen Treffen, der offene Austausch in der Gruppe und das Gefühl des „Ich bin nicht allein“ wird von vielen Teilnehmern als sehr entlastend erlebt, gibt Stabilität und Zuversicht.

Wie will ich wirklich leben?

„Ich weiß gar nicht genau, was mein Ziel ist, aber irgendwas muss sich ändern.“ Das ist ein Satz, mit dem ein Erstgespräch in der ChemSex-Beratung beginnen kann, erzählt Malte. Manche Menschen haben aber auch konkrete Ziele. Das kann Drogenabstinenz sein, oder auch mehr Kontrolle über den Konsum zu haben. „Abstinenz ist nicht für alle der richtige Weg“ sagt Malte.

In der Beratung geht es darum, den Blick für einen alternativen, neu zu findenden Lebensstil zu öffnen und zu überlegen, wie man da hinkommt. Oft sind die Beratungen, die bei Mann-O-Meter auf fünf Sitzungstermine begrenzt sind dazu da, Themen zu finden, die später in einer Therapie oder anderen Selbsthilfe-Angeboten besprochen werden können. Dabei kann es um Scham, Perfektionismus, Bindung, Geschlechtsidentität und Männlichkeit gehen, oder vielleicht auch schlichtweg um die Frage: Wie trete ich mit anderen schwulen Männern in Kontakt, wenn es nicht um Sex geht? 

In Nürnberg ist das Angebot der ChemSex-Beratung nicht auf wenige Stunden begrenzt. Deswegen haben im Beratungsprozess auch weitere Themen wie Schulden oder Partnerschaftsprobleme einen Raum. Peter hat auch schon Klienten in Haft besucht. Im Kern geht es aber, wie auch in Berlin darum, die aktuelle Situation zu sondieren, Ziele festzulegen und die dafür notwendigen Schritte zu erarbeiten.

Wie spreche ich das Thema in der Beratung an?

Mittlerweile gibt es in verschiedenen Städten Angebote für ChemSex-Praktizierende. Wie spreche ich das Thema an, wenn ich das Gefühl habe, ein Klient könnte von einer Gruppe oder einer speziellen Beratung profitieren?

„Berater*innen sollen sich zunächst vor Augen führen: Menschen tun das, was sie tun aus guten Gründen, so ist das auch beim Drogenkonsum. Deswegen sollte man ihnen mit Empathie begegnen.“ Sagt Malte. „Es geht nicht um eine moralische Bewertung – und nicht jeder Konsum ist Sucht. Es ist wichtig, dass sich Berater*innen mit den eigenen moralischen Vorstellungen zu Drogenkonsum auseinandersetzen.“ Peter hat gute Erfahrungen damit gemacht, das Thema Drogen im Checkpoint-Setting dann anzusprechen, wenn Besucher im Fragebogen Drogenkonsum angegeben wurde. „Ist mit dem Drogenkonsum alles im grünen Bereich bei Dir?“ kann als Frage schon ausreichen – und der Hinweis, dass es bei Bedarf Beratungsangebote gibt. Angebote, die es noch vor wenigen Jahren nicht gegeben hat. Was mit dem quapsss-Projekt begann, hat Früchte getragen: Sichere Räume an denen über Sex und Drogen offen gesprochen werden kann, und Berater*innen, die in beiden Themen Expertise haben.

Drogen erklären:

Crystal Meth

Crystal Meth (auch: Tina, Crystal, Ice, Yaba) ist eine hochwirksame Droge, die den Wirkstoff Methamphetamin enthält. Crystal ist eng mit Speed verwandt, wirkt jedoch deutlich stärker und länger aufputschend. Meist ist Crystal Meth in Kristall- oder Pulverform erhältlich, seltener als Tabletten (“Thai-Pille”) oder Kapseln.

Crystal wird auf verschiedene Arten konsumiert. Es kann gesnieft, geraucht, in Zigarettenpapier oder Kapseln gefüllt (“Bömbchen”) geschluckt, in Flüssigkeit gelöst anal eingeführt (“booty-bumping”) oder intravenös gespritzt werden.

GHB/GBL

GHB und GBL sind Substanzen, die im Körper ähnlich wirken. Sie werden auch „G“ (englisch ausgesprochen), Gina, Liquid Ecstasy und K.O.-Tropfen genannt. Sie kommen meist als farblose, geruchsneutrale Flüssigkeiten vor. G ist ätzend und muss in stark verdünnter Form eingenommen werden. Die Substanz wird meist in einer kleinen Flasche aufbewahrt und mit Hilfe einer Pipette oder Spritze (ohne Nadel) auf den Milliliter genau dosiert.

Mephedron

Mephedron ist eine aufputschende Droge, die in der Szene auch „Mephi” oder „Mephe” abgekürzt wird. International wird sie auch „Meow” („Miau”) oder „M-Cat”/„Mkat” genannt. Mephedron ist erkennbar an seinem markanten, strengen Geruch, der angeblich an Katzenurin erinnert. Es kommt üblicherweise als klebriges oder kristallines Pulver vor, dessen Farbe variieren kann zwischen weiß, gelblich und bräunlich.

Mephedron wird meist durch die Nase gezogen (gesnieft) oder als „Bömbchen“ geschluckt (z.B. in Zigarettenpapier oder Leerkapseln gefüllt). Möglich ist auch der rektale Konsum (”booty bumping”, “boofing”) oder das slammen/spritzen.

Verweis auf E-Learnig-Modul

Wer sich mit dem Thema ChemSex ausführlicher beschäftigen will kann ein E-Learning-Modul unter https://www.de.learnaddiction.eu/ nutzen. Dort gibt es umfassende Informationen sowohl für Berater*innen als auch für ChemSex-Praktizierende. Hinweise zu Wechselwirkungen mit der HIV-Therapie bietet die Webseite: https://www.hiv-drogen.de/de