Ukraine-Hilfe im Schulterschluss

Foto: real-enrico/photocase.de

Der Krieg in der Ukraine trifft queere Menschen und Menschen mit HIV auf besondere Weise – egal ob sie im Land bleiben oder in Deutschland Zuflucht suchen. Dirk Hetzel von der DAH berichtet, wie Aidshilfen und das Queere Bündnis Ukraine auf diese Herausforderungen reagieren und welche unterstützenden Angebote es für Menschen in und aus der Ukraine gibt.

Am 24. Februar haben russische Truppen die Ukraine angegriffen, seitdem herrscht dort ein fürchterlicher Krieg, Millionen Menschen sind auf der Flucht. Erinnerst Du Dich noch, wie Du davon erfahren hast? Was ist Dir durch den Kopf gegangen?

Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag, ich habe vom Angriff der russischen Truppen im Frühstücksfernsehen erfahren. Am 24. Februar hatte ich ein Online-Seminar zur Webseiten-Gestaltung – und dachte mir: Ich kann doch jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen und ein Seminar leiten, während dort Menschen um Leib und Leben fürchten müssen. Wir haben dann im Seminar für eine kurze Zeit die Kameras ausgeschaltet, um Innezuhalten. Das war zumindest ein kleines Zeichen.

Gleichzeitig musste ich natürlich an die Menschen dort denken und an Kolleg*innen, die Familie und Freunde in der Ukraine haben oder zumindest berufliche Kontakte dorthin. Abgesehen davon ist für mich dieser Krieg nicht nur ein Konflikt, der Russland und die Ukraine betrifft, es ist für mich ein Angriff auf die freiheitliche Grundordnung, ein Angriff auf freiheitliche Werte.

privat
Dirk Hetzel

Die DAH hat ziemlich schnell reagiert und Informationen für Geflüchtete aus der Ukraine auf die Webseite gestellt. Wie habt Ihr das so schnell hinbekommen? Wo bestand der größte Handlungsbedarf? Was waren die größten Herausforderungen?

In unserem Team war uns schnell klar, dass wir in dieser Ausnahmesituation schnell reagieren und Informationen bereitstellen müssen. Wir sind dabei so vorgegangen, wie wir in unserem Team auch bei anderen Themen vorgehen: Wir fragen uns: Was brauchen die Menschen in dieser Situation am meisten? Und wir fragen Menschen, die mehr Einblick haben, z. B. unsere Kolleg*innen aus dem internationalen Bereich, aus dem Verband und aus dem Queeren Bündnis.  Es ging vor allem darum, die wichtigsten Infos zu Aufenthalt und Zugang zum Gesundheitssystem zu geben. Aber auch spezifische Infos für Dorgengebraucher*innen, Sexarbeiter*innen und LGBTIQ.

Zu Beginn des Krieges gab es noch nicht viele Informationen für Geflüchtete aus der Ukraine. Aber dann gab es eine große Dynamik mit täglich neuen Infos, neuen Puzzle-Steinen, die wir zusammensetzten und auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch ins Netz stellten. (https://www.aidshilfe.de/ukraine-hilfen-gefluechtete). Bis heute werden diese Informationen ergänzt und aktualisiert, was ressourcenmäßig eine große Herausforderung ist.

Es gibt auch viele Aktivitäten zum Thema Ukraine auf verbandlicher Ebene. Kannst Du darüber etwas erzählen?

Seit Beginn des Krieges sind über 600.000 Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. In der Ukraine ist die HIV-Inzidenz wesentlich höher als in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern. Das heißt, es kommen auch viele Menschen mit HIV zu uns. Da die meisten Männer die Ukraine nicht verlassen dürfen, sind das meist HIV-positive Frauen, aber auch HIV-positive Kinder. Unter den Geflüchteten sind auch drogenkonsumierende Menschen, oder Menschen die substituiert werden. Sie brauchen ebenfalls Unterstützung. Neben HIV spielt Tuberkulose eine wesentlich größere Rolle, als das in Deutschland der Fall ist. Auch das ist eine Herausforderung.

Für Aidshilfen heißt das, dass wir uns schnell dazu austauschen mussten, wie die Situation vor Ort ist und wie wir auf diese Herausforderungen reagieren können. Dazu haben wir ein zweiwöchentliches Zoom-Meeting initiiert. Anfangs ging es hauptsächlich um den Informationsaustausch unter den verschiedenen Aidshilfen und darum, ein Gefühl zu bekommen, wo die dringendsten Handlungsbedarfe bestehen.

Großes Thema war und ist die Frage: Wie kommen die geflüchteten Menschen an HIV-Medikamente? Manche hatten nur einen begrenzten Vorrat dabei. Für die Geflüchteten ist ja vollkommen offen, wann sie wieder in die Ukraine zurückkehren können. In der Beratung gab es Anfragen von Ratsuchenden auf Ukrainisch oder Russisch, die in Deutschland verteilt wurden und nicht einmal genau wussten, in welcher Stadt sie gerade sind.

Noch problematischer ist die Situation für Substituierte. Auch sie brauchen hier Medikamente, haben aber oft große Ängste, sich hier zu outen. Und gerade auf dem Land gibt es kein ausreichendes Versorgungssystem.

In den Anfragen ging es oft um sehr grundsätzliche Sorgen: Wo bekomme ich Geld für Essen und Kleidung? Viele Geflüchtete konnten ja nur wenig Gepäck mitnehmen. Wo kann ich wohnen? Was muss ich überhaupt tun, damit ich Zugang zu Sozialleistungen habe? Zu welchen Ämtern muss ich gehen? Und es gab viele Fragen zum Aufenthalt in Deutschland. Es wurde schnell klar, dass Geflüchtete nicht gleich Geflüchtete sind. Für Geflüchtete aus der Ukraine, die keinen ukrainischen Pass haben, gelten andere gesetzliche Bestimmungen. Sie haben es wesentlich schwerer, bekommen beispielsweise nicht das Recht, sofort in Deutschland zu arbeiten.

Innerhalb kurzer Zeit haben wir ein „Community-Mapping“ erstellt und ca. 120 Organisationen aufgelistet, die bei all diesen diversen Fragen unterstützen können – und wo es Mitarbeitende gibt, die möglichst auch Russisch oder Ukrainisch sprechen. Die Liste gibt es im Intranet in der Ukraine-Gruppe. (hier vielleicht eine Verlinkung?)

Die DAH ist auch Teil vom „Queeren Bündnis Ukraine“. Was sind die Aufgaben des Bündnisses? Wer arbeitet dort mit? Und wie ist die Arbeit dort organisiert?

Den Anstoß für das Bündnis kam von zwei Aktivist*innen, mittlerweile machen über 50 Organisationen mit. Ziel des Bündnisses ist es, queere Geflüchtete – besonders in der Ukraine – zu unterstützen. Dort gibt es um die 6,5 Millionen Binnenflüchtlinge. 

Es gibt queere Organisationen in der Ukraine, die für Geflüchtete Unterkünfte organisieren. Die Menschen kommen dort oft fast ohne irgendeinen Besitz an. Diese Shelter stellen dann neben der Wohnmöglichkeit auch Essen, Kleidung und Hygieneartikel, aber auch Medikamente zur Verfügung. Das Bündnis organisiert Transporte von Deutschland direkt zu diesen Sheltern. Im Bündnis gibt es Mitarbeitende, die queere Organisationen und Privatpersonen in der Ukraine kennen und direkte Kontakte dorthin haben. So wissen wir, wo welche Hilfe am dringendsten gebraucht wird.

Bei aller Tragik von Krieg und Flucht gibt es auch viel Solidarität und Hilfsbereitschaft. Gibt es etwas, worüber Du Dich besonders gefreut hast?

Mich beeindruckt, dass im Bündnis sehr unterschiedliche Menschen und Organisationen zusammenarbeiten. Es ist schon ein toller bunter Haufen. Ich finde es unglaublich, dass die Zusammenarbeit so gut funktioniert. Das liegt an tollen Leuten, die sehr engagiert sind. Für mich persönlich ist die Mitarbeit im Bündnis sehr bereichernd. Vielleicht hätten wir unter normalen Umständen nicht zusammengefunden, aber es gibt im Bündnis eine gemeinsame Überzeugung, dass wir Hilfe leisten müssen –  das geht ohne größere Auseinandersetzungen und mit viel Pragmatismus. Das Bündnis konnte bislang über 500.000 € sammeln, das ist schon enorm.

Und dann gibt es auch noch einen egoistischen Aspekt: Ich kann etwas gegen mein Gefühl der Ohnmacht angesichts dieses schrecklichen Krieges tun, etwas, das im Rahmen meiner Möglichkeiten ist. Im Schulterschluss mit dem Bündnis fühle ich mich getragen – und bin Angesichtes dieser schlimmen Situation nicht allein.

Werner Bock

Gut zu wissen!

Die Deutsche Aidshilfe hat für ukrainische Geflüchtetet Videos bereitgestellt. Diese geben einen ersten Überlick zu den Themen: Leben mit HIV und/oder Tuberkulose, queeres Leben, Drogenkonsum und Substitution sowie Sexarbeit und geflüchtete Menschen ohne ukrainischen Pass.

Übersicht zu Videos für ukrainische Geflüchtete

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