Sind STI wirklich auf dem Vormarsch?

© DAH | Bild: Renata Chueire

In verschiedenen Veröffentlichungen ist zu lesen, dass sexuell übertragbare Infektionen in der letzten Zeit stark zugenommen haben. Besteht ein Grund zu größerer Besorgnis? Dr. Axel Jeremias Schmidt (Referent für Medizin und Gesundheitspolitik der DAH) wirft in unserem Interview einen differenzierten Blick auf das Geschehen.

Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (European Centre for Disease Prevention and Control, ECDC) hat jüngst vermeldet, dass die Fallzahlen sexuell übertragener Infektionen in Europa zunehmen. Hat dich das überrascht?

Nein, ganz und gar nicht. In vielen europäischen Ländern wurde das Testen auf asymptomatische Infektionen mit Gonorrhö und Chlamydien in den letzten Jahren massiv ausgeweitet. Meldedaten in Deutschland und Europa bilden nur das ab, was gefunden wird. Wenn mehr und gründlicher gesucht wird, wird natürlich auch mehr gefunden. Das heißt aber nicht zwingend, dass auch mehr Infektionen stattfinden.

Das RKI schätzt die Zahl der Menschen in Deutschland, die eine medikamentöse HIV-Prophylaxe (PrEP) nutzen, auf etwa 40.000 Personen. All diese Personen werden seit über vier Jahren viermal jährlich auf Syphilis, Gonorrhö, und Chlamydien getestet. Das ist in den meisten europäischen Ländern mit PrEP-Programmen Standard. Es war also in jedem Fall damit zu rechnen, dass die Meldezahlen in Europa steigen. Die größten Anstiege der Meldezahlen finden sich in denjenigen Ländern, in denen das Testen am stärksten ausgeweitet wurde. In Deutschland werden die Meldezahlen zu Gonorrhö und Chlamydien jedoch noch nicht bundesweit erfasst.

Wenn mehr und gründlicher gesucht wird, wird natürlich auch mehr gefunden. Das heißt aber nicht zwingend, dass auch mehr Infektionen stattfinden.

Warum gelingt es nicht, die STI-Epidemie in den Griff zu bekommen?

DIE STI-Epidemie gibt es nicht. Die Epidemiologie von beispielsweise HIV, Syphilis, Gonorrhö, und Chlamydien ist jeweils höchst unterschiedlich. HIV und Syphilis haben sehr viel schwerer wiegende gesundheitliche Folgen als beispielsweise eine rektale Chlamydien-Infektion. Entsprechend braucht es differenzierte Ansätze. Und eine Gegenfrage: Was bedeutet denn „in den Griff bekommen“? Es gibt keine keimfreie Sexualität. Wenn wir eine offene Gesellschaft wollen, in der Menschen ihre Sexualität so frei wie möglich ausleben können, gehören Geschlechtskrankheiten in einem gewissen Umfang dazu. Was wir nicht gebrauchen können, ist eine moral panic.

Ein wichtiger Ansatz wäre, dazu beizutragen, dass Menschen besser über Infektionsrisiken beim Sex informiert sind. Um es mit den Worten meines Londoner Kollegen Prof. Ford Hickson zu sagen: „Wir müssen Menschen in die Lage versetzen, dass sie Entscheidungen treffen können, um möglichst guten Sex mit möglichst wenig Schaden zu haben – the best sex with the least harm.“ Diese beiden Interessen muss jeder Mensch für sich persönlich austarieren. Das ist aus meiner Sicht wichtiger als sinkende Fallzahlen.

Heißt das, dass du gegen das Testen asymptomatischer Personen bist? Andere argumentieren, dass nur dadurch versteckte Fälle entdeckt werden können. Was sagst du dazu?

Nein. Selbstverständlich sollte es möglich sein, dass sexuell übertragene Infektionen, die langfristig die Gesundheit schwer beeinträchtigen können, etwa HIV oder Syphilis, möglichst früh entdeckt werden, damit sie adäquat behandelt werden können. Weiterhin sollten Menschen, bevor sie Sexualkontakte mit neuen Partner*innen eingehen, die Möglichkeit haben sicherzustellen, dass sie keine relevanten sexuell übertragenen Infektionen haben. Den meisten Menschen ist es ein Bedürfnis, keine Infektionen weiterzugeben. Dieses Bedürfnis ist bei schambesetzten Erkrankungen wie Geschlechtskrankheiten besonders ausgeprägt. Deswegen müssen wir prinzipiell die Möglichkeiten, sich einfach und kostengünstig testen zu lassen, verbessern.

„Wir müssen Menschen in die Lage versetzen, dass sie Entscheidungen treffen können, um möglichst guten Sex mit möglichst wenig Schaden zu haben – the best sex with the least harm.“

Prof. Ford Hickson

Es ist logisch, dass asymptomatische Fälle nur durch entsprechendes Screening aufgedeckt werden können. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch die Frage stellen, ab wann ein solches Screening und die sich daran anschliessende antibiotische Behandlung bei Infektionen, die meist folgenlos von alleine ausheilen (z.B. Gonorrhö, Chlamydien), möglicherweise mehr schadet als nützt. Gemäß dem bioethischen Grundsatz „primum non nocere“ (zuvorderst nicht schaden) ist es unerlässlich, vor der Einführung oder Ausweitung von STI-Screenings auf bakterielle STI wie Mycoplasma genitalium, Chlamydia trachomatis und sogar Gonorrhö eine sorgfältige Neubewertung des Schadens (Übertherapie, Nebenwirkungen, Resistenzentwicklung…) vorzunehmen – auch in Zeiten steigender STI-Risiken in medial hochgradig sexualisierten Gesellschaften. Dafür brauchen wir zunächst gute Studien, die bislang noch fehlen. Leider gehört Deutschland nicht zu den Ländern, in denen es besonders wahrscheinlich ist, dass solche Studien finanziert werden.

In deinem Ende letzten Jahres erschienenen Lancet-Artikel [1] hast du gezeigt, dass das sexuelle Repertoire eine Rolle spielt für das Risiko einer STI. Was ist das und was für Konsequenzen ziehst du daraus?

Unter sexuellem Repertoire eines Menschen verstehen wir die Gesamtheit der sexuellen Praktiken, die beim Sex zum Einsatz kommen. Und dieses sexuelle Repertoire erweitert sich gerade, nicht zuletzt unter dem Eindruck eines zunehmenden Konsums pornographischer Medien. So wird zum Beispiel der Analverkehr unter jungen Heterosexuellen zunehmend als selbstverständlicher Teil von Sexualität wahrgenommen und praktiziert.

Dr. Axel Jeremias Schmidt, Referent für Medizin und Gesundheitspolitik der DAH

Das sexuelle Repertoire hat einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, sich mit einer sexuell übertragenen Infektion anzustecken. Meist wird die Diskussion jedoch verengt auf den Gebrauch oder Nichtgebrauch von Kondomen.

Kondome schützen bei korrekter Anwendung sehr gut vor Schwangerschaft und HIV, aber nicht vor den meisten anderen sexuell übertragenen Infektionen. Eine wünschenswerte Konsequenz wäre es, dass bei der ärztlichen Sexualanamnese nicht nur Anzahl und Geschlecht der Partner*innen erhoben, sondern auch nach sexuellen Praktiken gefragt wird. Sexualanamnesen werden in Deutschland aber viel zu wenig durchgeführt, wie eine kürzlich im Deutschen Ärzteblatt erschienene Publikation einer bevölkerungsrepräsentativen Befragung in Deutschland eindrücklich gezeigt hat [2].

Wenn wir eine offene Gesellschaft wollen, in der Menschen ihre Sexualität so frei wie möglich ausleben können, gehören Geschlechtskrankheiten in einem gewissen Umfang dazu.

Wir erhalten zunehmend Anfragen diverser Anbieter von Selbsttests für zuhause, auf HIV, Syphilis und andere STI. Was hältst du davon?

Es gibt viele kommerzielle Anbieter, die — analog zu den überall bekannten COVID-19-Tests für zuhause — alle möglichen STI-Tests für Durchführung und Selbstablesung zuhause anbieten. Die Qualität dieser Tests ist aber sehr unterschiedlich, und ich denke die wenigsten Menschen können gut beurteilen, welche Tests auf welche STI für sie relevant sind oder wie lange sie nach einem vermuteten Risiko warten müssen, bis ein Test überhaupt eine Infektion nachweisen kann. Deswegen bin ich der Meinung, dass die meisten Menschen mit Testwunsch von einer Beratung profitieren, vor allem auch dann, wenn ein Test positiv ausfällt.

Die meisten frei verkäuflichen Produkte oder kommerziellen Testanbieter haben aber keine Beratung im Angebot, denn dies ist personell und logistisch aufwändig. Die meisten kommerziell verfügbaren STI-Selbsttest für zuhause arbeiten zudem mit Urin. Im Urin kann aber beispielsweise eine Gonorrhö im Rachen oder im Enddarm gar nicht nachgewiesen werden, womit wir wieder zum sexuellen Repertoire gelangen.

Unter sexuellem Repertoire eines Menschen verstehen wir die Gesamtheit der sexuellen Praktiken, die beim Sex zum Einsatz kommen. Und dieses sexuelle Repertoire erweitert sich gerade, nicht zuletzt unter dem Eindruck eines zunehmenden Konsums pornographischer Medien. So wird zum Beispiel der Analverkehr unter jungen Heterosexuellen zunehmend als selbstverständlicher Teil von Sexualität wahrgenommen und praktiziert.

Eine bessere Alternative zum STI-Selbsttest zu Hause (mit Selbstablesung) sind STI-Testkits, mit denen ich mir zuhause selbst Proben abnehme und diese dann per Post an ein dafür akkreditiertes Labor sende. Damit ist zumindest eine hohe Qualität der Diagnostik sichergestellt. Diese Alternative ist auch billiger als STI-Selbsttests mit Selbstablesung zuhause.

Die Nachfrage nach Selbsttests, mit oder ohne Laborauswertung, hat in und nach der COVID-Pandemie in Deutschland stark zugenommen [3]. Dies ist nicht zuletzt ein Anzeichen dafür, dass es für die meisten Menschen in Deutschland schwierig ist, sich im Rahmen des regulären Gesundheitssystems auf HIV oder STI testen zu lassen. Viele Ärztinnen und Ärzte wissen nicht, dass es möglich ist, sinnvolle Tests auf STI über die gesetzliche Krankenversicherung abzurechnen (sogar außerhalb ihres üblichen Laborbudgets) – das wurde für Deutschland erst vor wenigen Wochen eindrücklich in einer Publikation in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin dokumentiert [4].

Viele Ärztinnen und Ärzte ziehen es zudem vor, STI-Tests ausschließlich als privat zu zahlende sogenannte individuelle Gesundheitsleitung abzurechnen. Dann wird es aber schnell sehr teuer. Ein gutes STI-Heimtestangebot zeichnet sich meiner Meinung nach dadurch aus, dass die Tests erstens im Labor ausgewertet werden und dass zweitens die Möglichkeit eines Beratungsgesprächs besteht – vor dem Test, aber auch im Nachgang eines positiven Testergebnisses. (Damit möchte ich mich – um es ganz klar zu sagen – nicht gegen die vom Paul-Ehrlich-Institut gelisteten HIV-Selbsttests aussprechen, die für manche Menschen den HIV-Test leichter erreichbar machen. Hier ist lediglich das längere diagnostische Fenster zu beachten…).

In der neuen Leitlinie zur HIV-Prä-Expositionsprophylaxe finden sich neu zwei kleine Hinweise auf reisemedizinische Beratungen.

Menschen, die in Länder mit hoher HIV-Prävalenz reisen und dort Sexualkontakte eingehen, sollten über die Möglichkeit der medikamentösen HIV-Prophylaxe (PrEP) informiert sein und können sich gegebenenfalls für die Dauer der Reise mit Medikamenten vor HIV schützen. Das Thema PrEP gehört aus meiner Sicht in jede reisemedizinische Beratung. Die neue deutsche Leitlinie ist leider sehr zurückhaltend, was die Empfehlung einer solchen zeitlich begrenzten PrEP für Reisende angelangt. Anders als beispielsweise in der Schweiz oder in Frankreich wird die europäische Zulassung für die medikamentöse HIV-Prophylaxe in Deutschland sehr eng ausgelegt, und jede nicht auf Dauer angelegte Einnahme von HIV-PrEP als off-label beurteilt. Das ist sehr ärgerlich.

Das Thema PrEP gehört aus meiner Sicht in jede reisemedizinische Beratung.

Was für Konsequenzen ziehst du aus der bisherigen Evidenz, welche Maßnahmen helfen könnten, sexuell übertragene Infektionen einzudämmen?

Neu diagnostizierte HIV-Infektionen sind in Deutschland seit Jahren rückläufig, und zwar trotz einer Zunahme des Testens auf HIV. Das heißt: Immer weniger Menschen infizieren sich in Deutschland mit HIV. Das ist eine sehr gute Nachricht. Zudem wird zunehmend die Möglichkeit der medikamentösen HIV-Prophylaxe (PrEP) genutzt, obwohl dies sicherlich noch ausbaufähig ist.

Auch sexuell übertragene Infektionen mit Hepatitis C sind rückläufig. Für etliche sexuell übertragene Infektionen gibt es Impfungen, etwa gegen HPV, Hepatitis A, Hepatitis B, und auch gegen die 2022 hinzugekommenen Mpox (ehemals „Affenpocken“). Leider werden diese Möglichkeiten in Deutschland nicht ausgeschöpft. Anders als beispielsweise in der Schweiz oder in Österreich wird die Impfung gegen HPV in Deutschland nur bis zu einem Alter von 17 Jahren empfohlen und bezahlt.

Wer sich gegen Mpox impfen lassen will, hat ebenfalls schlechte Karten: In etlichen Bundesländern gibt es immer noch keine Abrechnungsmöglichkeit für die Impfung, obwohl sie seit über einem Jahr von der STIKO empfohlen wird. Die Impfwilligen müssen deswegen in Vorleistung gehen und bekommen die Kosten später erstattet. Doch nicht alle Menschen haben die finanziellen Möglichkeiten dafür, manche wissen auch nicht, wie sie sich die privat aufgebrachten Kosten von ihrer Versicherung erstatten lassen können. Manche Bundesländer haben selbst während des Ausbruchs im Sommer 2022 die STIKO-Empfehlung nicht umgesetzt und die Impfung auch Menschen mit hohem Risiko nicht prophylaktisch angeboten. Auch für Gonorrhö und Chlamydien bräuchten wir einen guten Impfstoff. Für die Gonorrhö gibt es hier bereits vielversprechende Ansätze. Neuerdings wird vermehrt diskutiert, nach dem Sex zwei Tabletten Doxycyclin einzunehmen, um Infektionen mit Chlamydien und Syphilis zu verhindern. Bei Personen, die viermal im Jahr getestet werden und sich sehr häufig mit diesen beiden Erregern infizieren, konnten hier gute Effekte gezeigt werden.

Ich bleibe aber aus drei Gründen skeptisch. Zum einen ist unklar, inwieweit sich diese Ergebnisse auf andere Personengruppen übertragen lassen. Zum anderen gab es in den letzten 80 Jahren schon mehrere Versuche, durch die prophylaktische Einnahme von antibiotisch wirksamen Substanzen bestimmte STI einzudämmen: In den 1940er Jahren mit Sulfathiazol oder Penicillin oder in den 1970er Jahren mit Minocyclin. Die antibiotischen Prophylaxen erwiesen sich bei all diesen Versuchen immer als hoch wirksam, langfristig aber waren sie sämtlich nicht erfolgreich, weil die Erreger resistent wurden. Ich sehe keinen Grund, warum das nun bei Doxycyclin ganz anders sein sollte. Und schliesslich haben Antibiotika Nebenwirkungen, und es gibt Hinweise – gerade bei Chlamydien – dass durch häufige Behandlung sich keine ausreichende Teilimmunität ausbildet. Wir leben schon jetzt in einer Gesellschaft, in der immer mehr gesunde Menschen Medikamente einnehmen – auch beim Sex. Nicht zuletzt sollten wir daher mehr in sexuelle Bildung investieren. Nicht nur bei Ärztinnen und Ärzten, sondern auch in der sexuell aktiven Bevölkerung.

Mehr lesen:

  1. Schmidt AJ & Marcus U. What’s on the rise in Sexually Transmitted Infections? Lancet Reg Health Eur. 2023 Oct 26;34:100764. doi: 10.1016/j.lanepe.2023.100764. PMID: 37927434; PMCID: PMC10624981
  2. Brenk-Franz K, Brähler E, Hoy M, Schneider N, Strauß B: How often are patients in Germany asked about their sexual history? A population-representative survey. Dtsch Arztebl Int. 2023; 120: 811–2. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0204
  3. Schmidt AJ, Kantwerk C, Kimmel S, Dorsch H-P, Knoll C (2024). Halbjahresbericht 2/2023. HIV- und STI-Tests im Verband der Deutschen Aidshilfe. Berlin: Deutsche Aidshilfe
  4. Meurer, P., Heintze, C. & Schuster, A. Sexuell übertragbare Infektionen bei Frauen in der hausärztlichen Praxis – eine qualitative Interviewstudie mit Hausärzt:innen in Berlin. Z Allg Med. 2024; 100: 83–90. DOI: 10.1007/s44266-023-00162-9