Youthwork: Kreativ gegen Halbwissen und Stigmatisierung

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Wie schmeckt Sperma? Wie viele Gruppen braucht man für Gruppensex? Tut HIV weh? Sind zwei Kondome sicherer als eins? Solche und ähnliche Fragen beantworten die sexualpädagogischen Mitarbeiter*innen von Aidshilfen tagtäglich bundesweit in Schulen im Rahmen des Arbeitsbereiches “Youthwork”. Mit interaktiven Workshops meistens ab der 8. Klasse wird aktuelles Wissen über STI, HIV/Aids, Sexualität, Vielfalt und Pubertät vermittelt; unterstützt von gemeinsamer Reflexion und Diskussion. Die sexualpädagogische Präventionsarbeit wird von fast jeder lokalen Aidshilfe durchgeführt, meist von pädagogisch geschulten hauptamtlichen, mancherorts auch durch ehrenamtliche Youthworker*innen. Hier teilt Sophie Kortenbruck, Referentin Youthwork der Berliner Aids-Hilfe, persönliche Einblicke in diesen kunterbunten Arbeitsbereich.

Die Generation nach Aids – so könnte man die jungen Menschen bezeichnen, die uns wöchentlich, mal interessiert, mal mit Widerwillen, vor der Nase sitzen. Diese jungen Menschen sind ohne Mahnwachen im Fernsehen und “Gib AIDS keine Chance” aufgewachsen. Forschung an ihren älteren Geschwistern zeigt, dass die Kondomnutzung junger Erwachsener in Deutschland so hoch ist wie nie, und dass sie sich öfter trauen als ältere Generationen, mit ihren Ärzt*innen über ihre sexuelle Gesundheit zu sprechen (vgl. dazu die GeSiD-Studie sowie die BZgA-Studie “Jugendsexualität”). Vielleicht ein Indiz dafür, dass irgendwas in den letzten Jahrzehnten “richtig” läuft; dass sexualpädagogische Angebote in Schulen beginnen, ihre Wirkung zu entfalten. Hier gilt es, dran zu bleiben: Denn die Schule ist erwiesenermaßen eine der Hauptinformationsquellen für Jugendliche beim Thema Sexualität. (1) Dabei spielen wir als Aidshilfen eine wichtige Rolle. Denn wer, behaupte zumindest ich, ist aus historischer Notwendigkeit heraus besser darin geübt als wir Aidshilfen, das tabuisierte Themenfeld der sexuell übertragbaren Infektionen (STI) so urteilsfrei (und nahezu wohlwollend) zu behandeln? Damit auch zukünftige Generationen ihre sexuelle Gesundheit selbstbewusst in die Hand nehmen können, platzieren Fachkräfte und Ehrenamtliche der Aidshilfen diese Themen in den Schulen und tragen dazu bei, die oft damit verbundene Furcht und Scham abzubauen.

Eine Breite an Workshopthemen und Zielgruppen

Die Präventionsarbeit der Aidshilfen ist auf junge Menschen, meistens ab der 8. Klasse, ausgerichtet. Diese Arbeit, die häufig unter dem Titel “Youthwork” steht, ist Alltag in vielen Aidshilfen – entweder vor Ort in der Schule oder in Räumen des Trägers. Über die Schule hinaus besuchen einzelne Aidshilfen auch Jugendliche in Wohngruppen für geflüchtete Minderjährige, in Klassen der Pflegeschulen oder im Jugendarrest. Letztere ist eine für STI und ungeplante Elternschaft besonders vulnerable Zielgruppe. (2) Die meisten Workshops sind, je nach Aidshilfe, auf eine Dauer zwischen 90 und 180 Minuten angelegt. Das Themenspektrum ist breit, manche Aidshilfen fokussieren sich auf die STI-Prävention und das Leben mit HIV, andere bieten auch spezielle Formate zur sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt (3) an.

Die Prävention von und das Leben mit HIV/Aids bildet, zumindest in Berlin, Schwerpunkt des Workshops. Trotzdem nutzen wir die Chance, relevantes Grundlagenwissen zu den STIs anzubieten. So sind Chlamydien-Infektionen vor allem bei jüngeren Menschen häufig verbreitet, trotzdem zeigen Studien und Praxiserfahrung, dass die Infektion weder bei jüngeren noch bei älteren Generationen bekannt ist (GeSiD, 2022 (4); Gille et al., 2005 (5)). Auch Informationen zur HPV-Impfung sind jungen Menschen willkommen. Mit vielen Ansichtsmaterialen und klassischen Methoden ausgerüstet, wie z.B. dem Sex-ABC oder dem Grabbelsack, helfen wir interaktiv dabei, Halbwissen aufzuräumen, Sorgen einzuordnen und im Bereich STI Handlungsfähigkeit herzustellen. Je nach Vorwissen der Klasse gehört oft der gute alte Kondomführerschein, gepaart mit einer Anleitung zum Lecktuch-selbst-Basteln, dazu. Auch wenn die jüngeren Schüler*innen teilweise noch Jahre (6) von ersten Sexualkontakten entfernt sind, besprechen wir Übertragungswege, Symptome, Testmöglichkeiten und Behandlung; auch mit Blick auf die Vielfalt sexuellen Lebens. Diffuse Ängste, Scham und Ekel sind typische und nachvollziehbare Reaktionen der Klassen auf unsere Themen. Der Workshop ist ein Raum, um diese Reaktionen zu verbalisieren und zu reflektieren und auch teilweise zu entkräften. Ohne Lehrkräfte im Raum öffnen sich die Jugendlichen oft vertrauensvoll, werden neugierig und stellen manche explizite Frage, für die sie sonst keine Ansprechpartner*in hätten. Hierbei erreichen wir ein wichtiges Ziel der Workshops, nämlich: das Sprechen über Sexualität, Körper und STI vorzuleben und die STI-Testung zu entdramatisieren (ein Vorhaben, das übrigens auch einigen der älteren Generationen gut täte).

Tabula rasa: Sexualpädagogik mit dem Schwerpunkt “Leben mit HIV”

Als “VIP” unter den sexuell übertragbaren Infektionen ist das HI-Virus immerhin berühmt-berüchtigt bei den Generationen Z und Alpha: Da war doch was mit Freddie Mercury – und auf Netflix gibt es doch diese Serie, hat da nicht jemand HIV? Was genau das Virus tut, ist oft unbekannt. Es ist “schlimm”, soviel ist klar. Je nach Gruppe und Individuen treffen wir in den Klassen auf ganz unterschiedliches Vorwissen, vom selbstverständlichen Umgang mit N=N (7) bis zur unsicheren Rätselei. Die Unwissenheit der Schüler*innen, insbesondere zu HIV/Aids, lässt bei meiner Wenigkeit eine (vielleicht naive) Hoffnung aufkeimen: Da, wo noch keine veralteten und stigmatisierenden Bilder in den Köpfen sind, muss doch unsere Chance sein, diskriminierenden Haltungen präventiv entgegenzuwirken.

Ein Blick in die aktuell verwendeten Biologie-Schulbücher bestätigt für mich die Wichtigkeit unseres ergänzenden Angebotes in Schulen. Unter dem Titel: “AIDS – ein tödliches Virus” finden die pubertierenden Leser*innen veraltete und unvollständige Informationen zu HIV/Aids. Von N=N keine Spur, Publikationsdatum: 2018. Hier bieten wir ein Korrektiv. In unseren Diskussionen um Nichtübertragbarkeit, Berufsfähigkeit und aktuelles Leben mit HIV reagieren die Schüler*innen mal sehr überrascht, mal misstrauisch oder achselzuckend: “Ja, wenn kein Virus im Blut ist, wie soll man dann jemand anstecken, ist doch logisch”. Ja, ist es. Parallel zu der privilegierten Situation in Deutschland zeigen wir die globalen Ungerechtigkeiten im Bereich Prävention und medizinische Versorgung von HIV-positiven Menschen auf, und dass in vielen Regionen die meisten Neuinfektionen bei Mädchen im Schulalter stattfinden.

Von Kino bis Comedy: Ein vielfältiger und kreativer Arbeitsbereich

Um die Zielgruppe zu erreichen, muss der Arbeitsbereich kreativ werden. Die Aidshilfe Chemnitz zaubert witzige, mehrsprachige Flyer und Sticker zu Sexualität, geschlechtlicher Vielfalt und den diversen STI (8) (übrigens jetzt auch auf Ukrainisch). Die Aidshilfe Düsseldorf organisiert unter anderem ein “YouTube-Festival” mit, bei dem Schulklassen ihre Lieblings-Videos zu den Themen HIV/STI, Liebe, Pubertät und Sexualität wählen und diese dann gemeinsam auf der Kinoleinwand schauen. Die Show wird dabei von Social-Media-Influencer*innen moderiert, zuletzt vom sehr beliebten Sexualpädagogen Benjamin Scholz (auch bekannt als Ben von https://jungsfragen.de/). In Berlin pilotierten zwölf junge ehrenamtliche Youthworker*innen ein neues Format für den Welt-Aids-Tag und luden zweihundert Menschen zu einem englischsprachigen Stand-Up-Comedy-Event rund um das Thema Sex & Liebe ein. Auf dem Lollapalooza-Festival 2022 hatte das Berliner Team die Chance, das Wissen von 75.000 Fans über Safer-Sex aufzufrischen. Youthwork NRW bastelte digital und programmierte ein interaktives Teenagerzimmer, in dem Gegenstände Informationen über Liebe, Sex und Körper vermitteln (https://www.diggiraum.de/). Seit Jahren schon bietet das Kooperationsprojekt “Sex in the City!” (9) eine App-gestützte Schnitzeljagd durch das queere Schöneberg, mit sehr positivem Feedback seitens der Klassen und Lehrkräfte.

Zukunft Youthwork: Qualitätsstandards und Vernetzung

Grundlage der Mitarbeit in Youthwork sind vor allem sexualpädagogisches Grundlagenwissen, Kommunikationsfähigkeit, Methodenwissen und Haltung. Oft haben Youthworker*innen eine sexualpädagogische Weiterbildung durchlaufen. Die Bereiche Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung professionalisieren sich seit Jahren stetig. Die Qualitätssicherung der Arbeit im Rahmen der Aidshilfen durch gemeinsame Standards wurde vor Jahren durch einen bundesweiten Facharbeitskreis angeregt. Die DAH hat diese u.a. 2021 durch ein umfassendes Handbuch (10) zur Methodenpraxis in Kombination mit einem Fortbildungscurriculum vorangetrieben (erhältlich unter https://www.aidshilfe.de/shop/praventionsarbeit-aidshilfen-fur-jungen-menschen-youthwork). Ergänzend dazu bietet die Deutsche Aidshilfe für Neueinstieger*innen in diesem Bereich jährlich eine “Basisschulung Youthwork” an. Fortlaufende Weiterbildungsangebote sind für die Qualitätssicherung wichtig, besonders im Hinblick auf den Einsatz von ehrenamtlichen Youthworker*innen. In Halle (Saale), Hamburg und Berlin werden Workshops, Infostände und Events für Jugendliche oft gänzlich von geschulten Ehrenamtlichen zwischen 20 und 30 Jahren – im Sinne eines Peer-to-Peer-Ansatzes – durchgeführt. Ausgerüstet mit Leidenschaft für ihr Tun, queerem Selbstbewusstsein, Fachwissen und der Altersnähe zu den Jugendlichen bilden diese Ehrenamtlichen oft einzigartige Ansprechpersonen für die Schüler*innen.

Um die aktuell wenig vorhandene Vernetzung der bundesweiten Youthwork-Referent*innen wiederzubeleben, gründeten die Teilnehmer*innen unter Koordination der DAH im Herbst 2022 den Facharbeitskreis “Sexuelle Bildung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen”, sprich Youthwork. Dieser soll sich zwecks überregionalem Austausch und Qualitätsentwicklung nun jährlich treffen. Über die lokale Vernetzung (11) der Aidshilfen hinaus soll der Facharbeitskreis auch für präventionsspezifische Anliegen Raum schaffen, wie z.B. für die (Weiter-)Entwicklung von Materialien für die Klassen oder für die Digitalisierung der Angebote. Zusätzlich wurde ein entsprechendes Online-Forum im DAH-Intranet eingerichtet. Neugierige und austauschdurstige Leser*innen sind herzlich eingeladen, der Gruppe (12) beizutreten.

Als Themenbereich ist die HIV/Aids-Prävention für Jugendliche etwas unbequem in der Abteilung “Schwule, MSM und Leben mit HIV” untergebracht. Ob Youthwork – als Primärprävention der Allgemeinbevölkerung – überhaupt in das Aufgabengebiet der Deutschen Aidshilfe fallen sollte, ist eine intensiv diskutierte Grundsatzfrage, die hier nicht im Detail bearbeitet werden soll und kann. Fakt ist: Youthwork ist Arbeitsalltag der meisten Aidshilfen bundesweit und stellt auch, ganz pragmatisch betrachtet, eine wichtige finanzielle Stütze dar, vor allem für kleinere Aidshilfen.

Man merkt: Ich bin ein Fan von Youthwork und hoffe, dass dieser unvollständige und subjektive Einblick in diesen Arbeitsbereich und in die Lebenswelten junger Menschen die Wichtigkeit und Besonderheit dieses Vorhabens unterstreicht. So schreibt uns ein junger, schwuler Workshopteilnehmer einer Pflegeschule: “Ich hatte immer übertriebene Angst vor HIV und Berufsunfähigkeit … euer Workshop hat viel Wissen vermittelt, und Angst und Unsicherheit gemindert. Danke für alles.” Den Dank gebe ich an alle Kolleg*innen und Ehrenamtlichen weiter, die sich tagtäglich den Herausforderungen der Youthwork stellen und ein neues Bild von HIV/Aids malen.

Sophie Kortenbruck (sie/ihr), akortenbruck@yahoo.de

Seit drei Jahren Referentin Youthwork der Berliner Aids-Hilfe e.V.

Vernetzungs- und Kontaktmöglichkeiten

Hast du Interesse an einer Vernetzung mit dem Arbeitsbereich Youthwork?

Wende dich gerne per Mail an die zuständige Ansprechperson in der DAH: Simon Herchenbach, simon.herchenbach@dah.aidshilfe.de.

Oder an Youthwork Berlin: youthwork@berlin-aidshilfe.de

Über den Instagram-Kanal der Berliner Aidshilfe lassen sich viele der weiteren Youthwork-Projekte finden: www.instagram.com/youthwork_bln.

  1. Siehe hierzu die Ergebnisse der 9. Welle der BZgA-Studie “Jugendsexualität”, einsehbar auf: https://www.forschung.sexualaufklaerung.de/forschungsthemen/jugendsexualitaet-im-ueberblick/jugendsexualitaet-9-welle-zentrale-ergebnisse/ (Stand: 30.01.2023)
  2. Siehe auch Wilke, Thomas et al. (2014): Sexualpädagogik und Gesundheitsförderung im Jugendarrest – Befunde einer explorativen Studie im Berliner Jugendarrest, in: Behrens, M. (Hrsg.): Gesundheit und Haft – Gesundheitliche Versorgung vor, während und nach der Haft. Lengerich: Pabst Science Publishers, 483-498.
  3. Ein Beispiel ist “Plietsch”, ein Workshopformat der Aidshilfe Hamburg (https://www.aidshilfe-hamburg.de/workshops/youthwork). (Stand: 30.01.2023)
  4. Mehr zu “Gesundheit und Sexualität in Deutschland” und zur Studie unter: https://gesid.eu/
  5. Gille, G. et al (2005): Chlamydien – eine heimliche Epidemie unter Jugendlichen. Prävalenzbeobachtung bei jungen Mädchen in Berlin. Dt. Ärzteblatt, 102 (28-29), A2021-A2025
  6. Entgegen der, auch unter Lehrkräften, oft verbreiteten Meinung, dass die “Jugend von heute” früher und früher sexuell aktiv ist, zeigt die Studie Jugendsexualität 9. Welle, dass Jugendliche erst später sexuelle Erfahrungen machen als noch vor zehn Jahren. (Millenials, packt euch an die eigene Nase!)
  7. Geneigte*r Leser*in, der Blick in die Fußnote indiziert hier Nachholebedarf (oder reine Neugierde).
  8. Zu bestellen unter: https://www.chemnitz.aidshilfe.de/material
  9. Informationen auf: https://www.sexinthecityberlin.de/ (Stand: 30.01.2023)
  10. Die Präventionsarbeit der Aidshilfen für und mit jungen Menschen (Youthwork). Praxishandbuch und Fortbildungscurriculum, erhältlich über: https://www.aidshilfe.de/shop/praventionsarbeit-aidshilfen-fur-jungen-menschen-youthwork (Stand: 30.01.2023)
  11. In NRW genießen die sexualpädagogischen Fachkräfte regionaler Träger den Luxus, über das Netzwerk Youthwork NRW (https://youthwork-nrw.de/ ) organisiert zu sein.
  12. Mittels Beitrittsanfrage an die DAH-Intranet Gruppe “Youtwork Bundesvernetzung”