Vielfalt und Gesundheit von Sexarbeitenden

© DAH | Bild: Renata Chueire

„Es ist Zeit, Sexarbeitende sprechen zu lassen und ihnen zuzuhören“

Im April 2022 ist das Projekt „Sexuelle Gesundheit und HIV/STI-Präventionsstrategien und -bedarfe von Sexarbeitenden“ gestartet. Das vom BMG finanzierte Projekt hat eine Laufzeit von 2 Jahren und wird von der Deutschen Aidshilfe durchgeführt. Urs Gamsavar sprach für das Fachportal Beratung mit der Projektleiterin Eléonore Willems.

Hallo Eléonore! Vielen Dank, dass du dir die Zeit für das Interview genommen hast. Seit ein paar Monaten läuft nun schon das Forschungsprojekt. Worum geht es?

Wir wollen die spezifischen Erfahrungen von Sexarbeitenden in Deutschland mit Blick auf die Präventionsangebote und gesundheitliche Versorgung erfassen und in ihrer Diversität besser verstehen. Zentrale Fragen sind z.B.: Warum lassen sich Sexarbeitende lieber in Einrichtung X auf HIV und STIs testen und meiden Einrichtung Y? Welche ihrer gesundheitlichen Bedarfe werden nicht gedeckt? Welche Strategien wenden sie an, die sich für sie bewährt haben?Auf dieser Grundlage können wir dann potentielle Versorgungslücken und strukturelle Probleme aufzeigen, aber auch förderliche Faktoren benennen.

Ein weiteres Thema des Projekts ist die HIV-PrEP. Wir wollen den Bedarf an PrEP in verschiedenen Sexarbeitenden-Communities ermitteln und die derzeit herrschenden Barrieren in der Entfaltung dieser Safer-Sex-Methode bei Sexarbeitenden beschreiben.

Warum lassen sich Sexarbeitende lieber in Einrichtung X auf HIV und STIs testen und meiden Einrichtung Y? Welche ihrer gesundheitlichen Bedarfe werden nicht gedeckt? Welche Strategien wenden sie an, die sich für sie bewährt haben?

Deutsche Aidshilfe/ Eléonore Willems

Was ist der Hintergrund des Projektes?

Ein wichtiger Hintergrund ist die Heterogenität der Gruppe der Sexarbeitenden in Deutschland. Sie arbeiten z.B. an unterschiedlichen Orten und üben diverse Arten von sexuellen Dienstleistungen aus, haben diverse Motivationen an der Sexarbeit und sind auch auf unterschiedliche Weise von Diskriminierung betroffen. Dementsprechend gehen wir davon aus, dass Sexarbeitende unterschiedliche Erfahrungen mit Präventionsangeboten und dem Gesundheitssystem machen und dass ihre Bedarfe von Community zu Community sehr verschieden sein können. Ein Ziel des Projekts ist es, diese Vielfalt darzustellen und die spezifischen Bedarfe herauszuarbeiten. Dafür folgt die Studie einem qualitativen, explorativen Forschungsdesign, das die Stimmen von Sexarbeitenden ins Zentrum rückt.

Du sprichst von einem qualitativen Forschungsdesign und verschiedenen Communities. Was kann ich mir darunter vorstellen?

Derzeit stehe ich im Kontakt mit einer Reihe von Peer-Multiplikator*innen aus verschiedenen Gruppen von Sexarbeitenden. Mit ihnen plane ich die sogenannten Fokusgruppen, die ab Oktober 2022 durchgeführt werden sollen. Die Fokusgruppen bestehen aus 4-10 Personen, die einer bestimmten Zielgruppe angehören. Das sind zum Beispiel weibliche Escorts, bulgarische Straßen-Sexarbeiterinnen, Trans*Sexarbeiter*innen, MSM*-Escorts, lateinamerikanische Indoor-Sexarbeiter*innen, Sexarbeiter*innen mit illegalisiertem Substanzkonsum, thailändische Sexarbeiter*innen, BIPoC-Sexarbeitende (Black, Indigenous and People of Color) und Sexarbeitende mit chronischer Krankheit oder Behinderung. Beim Fokusgruppengespräch wird durch eine offene Moderation und Informations- bzw. Stimulierungsinputs dazu angeregt, über bestimmte Themen zu diskutieren. Diese Diskussionen werden aufgenommen. Im Anschluss werden die Inhalte ausgewertet und miteinander verglichen.

Wichtig ist hier, auch zu sagen: Es geht beim Projekt nicht darum, tausende Sexarbeitende zu befragen, um dann sagen zu können, wie die Verteilung der Sexarbeit-Branche in Deutschland ist. Wir streben bei der Rekrutierung der Fokusgruppen-Teilnehmenden keine Repräsentativität an, sondern eine möglichst große Vielfalt.

Warum ist das Projekt wichtig?

Es ist Zeit, Sexarbeitende sprechen zu lassen und ihnen zuzuhören. Über Sexarbeitende wird oft in einer stigmatisierenden Art und Weise gesprochen und in der Forschungslandschaft gibt es im Allgemeinen sehr wenig über die Gesundheit von Sexarbeitenden in Deutschland. Dies trifft insbesondere auf mehrfachstigmatisierte Menschen zu, wie zum Beispiel auf Trans*-Personen oder Menschen ohne geklärten Aufenthaltsstatus. Deshalb ist es wichtig, dass das Projekt wissenschaftliche Erkenntnisse generiert. Und zwar partizipativ – das heißt: nicht bloß über Sexarbeitende, sondern partnerschaftlich mit Sexarbeitenden und für Sexarbeitende.

Es ist Zeit, Sexarbeitende sprechen zu lassen und ihnen zuzuhören.

Welche Ziele hat das Projekt?

Wir haben, kurz und knapp gesagt, drei Hauptziele: Erstens wollen wir der Community ein Tool geben, um Bedarfe belegen zu können. Das zweite Ziel ist die Verbesserung von Präventions- und Unterstützungsangeboten für Sexarbeitende. Das dritte Ziel ist, – auf der Basis der Ergebnisse – faktenbasierte Empfehlungen erarbeiten zu können. Wir wollen z.B. das Prostituiertenschutzgesetz in den Fokusgruppen thematisieren und untersuchen, welche Auswirkungen es bei den Teilnehmenden auf die gesundheitsbezogenen Erfahrungen und Strategien hat. Damit können die Forschungsergebnisse zur Evaluation dieses Gesetzes beitragen.

Wer wirkt noch bei dem Projekt mit?

Es gibt einen engagierten Projektbeirat, der, grob gesagt, zur einen Hälfte aus Community-Vertreter*innen besteht und zur anderen Hälfte aus Wissenschaftler*innen sowie Fachpraxis-Akteur*innen. Sie beraten uns jetzt schon zu allen Aspekten des Projekts. Außerdem gibt es ca. 10 Peer-Multiplikator*innen. Sie sind die sogenannten Peer-Forschenden und haben eine sehr wichtige Rolle im Projekt. Mit ihnen gestalte ich jeweils die ganze Veranstaltung, bei der die Arbeit einer Fokusgruppe stattfinden wird. Wir organisieren zusammen die Akquise (d.h. die Rekrutierung der Fokusgruppen-Teilnehmenden), stimmen die Fragen ab, die in der Fokusgruppe gestellt werden sollen und moderieren diese gemeinsam. Sie gestalten die Forschung also aktiv mit. Die Beirät*innen übrigens auch – mit ihnen entwickle ich vor allem das ganze Forschungsdesign weiter. Ich bin sehr froh, mit all diesen tollen Menschen zusammenzuarbeiten.

Eléonore, vielen Dank für deine Zeit und die spannenden Einblicke in das Projekt.

weitere Informationen zum Projekt

Urs Gamsavar