„Es ist mir wichtig, Berührungsängste zu reduzieren und Beratung idealerweise für beide Seiten zu stressfreien Situationen werden zu lassen.“ 

Schlagwörter Migration Community

Seit Oktober 2024 ist Dr. Laila Prager die neue Fachreferentin Migration bei der Deutschen Aidshilfe. Im Interview mit dem Fachportal erzählt sie von ihrem Weg in die Aidshilfe, aktuellen Themen und Herausforderungen im Fachbereich sowie ihren Ideen, welche Projekte sie zukünftig gemeinsam mit dem Verband voranbringen möchte.

Liebe Laila,
du hast gerade bei der Deutschen Aidshilfe als Referentin für Migration angefangen. Schön, dass du da bist!

Danke. Ich freue mich sehr hier bei Euch aufgenommen worden zu sein und meinen Beitrag im Bereich der Migration und zum Thema Rassismus und HIV-Prävention leisten zu können.

Wie hast du zur Aidshilfe gefunden? Was hat Dich persönlich motiviert, in diesem Bereich zu arbeiten?

(c) Laila Prager

Ich komme aus einem Ärzt*innenhaushalt, sodass ich von klein auf immer im Kontakt mit dem Themenfeld Medizin, Gesundheit und Krankheit war. Auch wenn mein Studium mich zunächst in die Geistes- und Sozialwissenschaften geführt hat, habe ich nach und nach dieses Wissen wieder mit medizinischen Themen verbunden. Ich habe mich unter anderem wissenschaftlich mit mentaler Gesundheit (wie Depressionen), der Reproduktion und Prokreation sowie vererbbaren genetischen Krankheiten auseinandergesetzt. Meine Spezialisierung lag dabei auf den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens und Menschen mit Migrationsgeschichte, die in Europa leben, und ihren Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen.

In meiner Dissertation im Fach der Sozial- und Kulturanthropologie habe ich mich mit den Formen der Heiratspartnerwahl türkischer Migrant*innen befasst, wobei ich insbesondere den Einfluss staatlicher Gesundheitspräventionsprogramme hinsichtlich der genetisch-vererbbaren Krankheiten auf die Cousinenheiraten praktizierende religiös-ethnische Gruppe untersucht habe. Im Sinne einer kritischen Medizinethnologie wollte ich u.a. zeigen, dass Präventionsprogramme nicht nur positive Effekte haben, sondern oftmals auch spezifische Communitys stigmatisieren und damit weiter benachteiligen.

Ausgehend von dieser Arbeit habe ich mich zunehmend mit verschiedenen Typen von Krankheiten, vor allem NCDs (Non-CommunicableDiseases, d.h. nicht übertragbare Krankheiten) wie Diabetes, Adipositas, chronischen Herz-Lungen-Erkrankungen und den Fragen um Diskurse der Stigmatisierungen beschäftigt, die damit einhergehen. Häufig werden bestimmte Gruppen für Krankheiten oder negatives Gesundheitsverhalten verantwortlich gemacht, während Effekte sozialer, politischer und umweltbezogener Faktoren auf die Gesundheit verschleiert werden.

In Deutschland selbst habe ich mich seit 2015 wissenschaftlich verstärkt mit dem wachsenden Rassismus befasst – insbesondere in Bezug auf Geflüchtete – sowie mit der Frage der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrung.

Nach vielen Jahren wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit diesen medizinischen Themen als Professorin wurde mein Bedürfnis jedoch immer stärker, aktiver in Prävention und Praxis gegen Stigmatisierung und Rassismus einzugreifen. Daher entschied ich mich für den Wechsel von der Universität zu Deutschen Aidshilfe.

Welche Herausforderungen siehst du in deiner Arbeit mit Menschen mit Migrationsgeschichte im Kontext der HIV/Aids-Prävention und Beratung? Wen möchtest du spezifisch ansprechen?

Eine der zentralen Herausforderungen, die ich in der Arbeit sehe, ist der Drahtseilakt, Menschen nicht auf ihre Migration oder Abstammung zu reduzieren und somit Stigmatisierungen zu reproduzieren – und gleichzeitig diesen Menschen mit ihren spezifischen, durch die vielfältigen Rassismuserfahrungen entstehenden Bedürfnissen gerecht zu werden. Es gilt daher, Homogenisierungen zu vermeiden und den unterschiedlichen migrantischen Communitys eine Stimme zu geben.

Es ist zentral, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass „Intersektionalität“ kein Modewort ist, sondern gelebte Realität.

Ob sprachliche Hürden, durch Haut- oder Haarfarbe erlebte Formen des alltäglichen Rassismus, struktureller Rassismus im schulischen und sozialen Umfeld oder genderspezifische Formen von Unterdrückung: Jede Gruppe und jeder Mensch lebt mit spezifischen Herausforderungen, die über einen positiven Status hinausgehen. Sexarbeiter*innen ohne Aufenthaltsstatus sind anders aufgestellt als solche mit unbefristetem, da ersteres umfassende medizinische Versorgung maßgeblich erschweren kann; Männer aus der Ukraine, die Sex mit Männern haben (MSM), erfahren Mehrfachdiskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer Absenz an der Front; BIPoC leiden unter der Sichtbarkeit ihres Andersseins und festeingeschriebenen Rassismen; Muslim*innen erleben verschärfte antimuslimische Stimmungen; Palästinenser*innen wird ihr Leid aufgrund des bestehenden Rassismus oft nicht anerkannt.

Daher ist es wichtig, zu evaluieren, welche spezifischen Bedürfnisse und Hürden diese und andere Gruppen haben und welche Risiken für sie im Einzelnen bestehen, um dann auf die Individuen und ihre intersektionalen Erfahrungen eingehen zu können. Hier ist die schiere Menge an verschiedenen Lebensumständen jedoch eine zentrale Herausforderung für die Migrations- und Fluchtarbeit.

Unsicherheiten bei kulturellen Gepflogenheiten und Tabus können Barrieren sein, die auch Fachkräfte lähmen können.

Gleichzeitig dürfen aber auch die Perspektiven, Probleme und Bedürfnisse des Gesundheitspersonals und der Berater*innen nicht aus den Augen verloren werden. So kann bei ersteren der Kontakt und die Arbeit mit Menschen mit Migrationsgeschichte auch vielerlei Ängste und Stresssituationen auslösen. Zum Beispiel, wenn Sprachbarrieren existieren oder sensible gesundheitliche Themen sich nur unzureichend übersetzen bzw. bei Anwesenheit übersetzender Dritter nicht mehr einfach besprechen lassen. Auch Befürchtungen von Berater*innen, dass die eigene Sprache rassistische Stereotype oder kulturalisierende Ideen reproduzieren und somit Menschen wider besseren Wissens verletzt werden könnten, müssen ernst genommen werden wie auch Unsicherheiten, z.B. ob man mit den Menschen über Sexualität reden kann und wenn ja: wie und wann. Schließlich können ein unklarer Rechtsstatus oder sich ständig verändernde Regelungen eine adäquate Beratung zusätzlich erschweren. 

Es ist mir daher überaus wichtig, sowohl das Gesundheitspersonal und die Berater*innen in ihrer Arbeit zu unterstützen, als auch die Diversität der Menschen mit HIV anzusprechen und allen die Möglichkeit zu bieten, sich vertreten zu sehen. Wichtig ist, mehr Empowerment in die Communitys zu tragen, damit diese selbstbewusst und selbstständig die Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen können. Es bedarf daher sowohl Hilfsangebote für Menschen mit HIV mit Migrationsgeschichte, aber auch Workshops und Angebote an das Gesundheits- und Beratungspersonal, um sich in solchen Situationen sicherer gegenüberzustehen. 

Gibt es spezielle Bedürfnisse und/oder Themen, die bisher noch nicht so im Fokus standen und die du gezielter in Blick nehmen möchtest?

Bisher wurde vor allem die Situation von Menschen mit Migrationsgeschichte aus den Hochprävalenzländern in meinem Ressort behandelt. Hierbei wurde insbesondere versucht, Rassismus als Hürde zum Gesundheitssystem zu diskutieren. Ich würde daher gerne auch etwas vernachlässigte Themen in den Blick nehmen wie anti-muslimischen Rassismus und andere Formen des Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa, Asien sowie dem Nahen und Mittleren Osten, um ein allumfassenderes anti-rassistisches Projekt zu ermöglichen. Zumal diese Regionen aufgrund vieler Krisen einen großen Anteil der Migrant*innen in Deutschland stellen. Anders als in anderen Teilen der Welt steigen hier die Zahlen der HIV/Aids-Infektionen deutlich an, was eine genaue Beobachtung und die Entwicklung klarer Präventionsprogramme erfordert.

Flucht, Migration und Rassismus stellen nicht nur Barrieren in der Kommunikation dar, sondern wirken selbst krankmachend

Ein anderes Thema, das meines Erachtens noch zu wenig beleuchtet wurde, ist, wie Flucht, Migration und Rassismus nicht nur Barrieren darstellen, sondern selbst krankmachend wirken. Auch hier möchte ich gemeinsam mit den betroffenen Communitys genauer hinschauen und gemeinsame Lösungsvorschläge entwickeln.

Auch wurde noch kein langfristiger Plan entwickelt, wie die schnell aufgebaute Nothilfe im Bereich der HIV/Aids-Hilfe für ukrainische und russische Geflüchtete in nachhaltige Strukturen zur Unterstützung dieser Communitys überführt werden kann, sodass langfristige Unterstützungssysteme entstehen und Community-Selbsthilfegruppen von der Präventionsarbeit profitieren können.

Welche Pläne/Projekte verfolgst du in deinem Fachbereich? Was würdest du dir langfristig für die Arbeit im Migrationsbereich wünschen?

Es ist mir wichtig, mehr unterschiedliche Gruppen anzusprechen, den Communitys noch mehr Autonomie zu geben und Hürden seitens der Migrant*innen und des Gesundheitspersonals abzubauen, d.h. gegenseitige Berührungsängste zu reduzieren und Beratung idealerweise für beide Seiten zu stressfreien Situationen werden zu lassen. 

Hierzu arbeite ich an der langfristigen Einführung eines Grundkurses in Anti-Rassismus, Awareness und Arbeit mit Geflüchteten und Menschen mit Migrationsgeschichte für alle Personen in den Aidshilfen sowie Berater*innen aus anderen Mitgliedorganisationen der Deutschen Aidshilfe in Form eines allgemein zugänglichen Basismoduls.

Ferner möchte ich noch stärker für die Rechte von Menschen mit Migrationsgeschichte und Geflüchteten auf eine flächendeckende und umfassende medizinische Versorgung eintreten. Eine neuere, umfassende Studie zur aktuellen Lage des HIV/Aids- und STI-Status unter Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland ist ebenfalls geplant, in der Communitys, die Beratungsinstitutionen und wissenschaftliche Literatur zusammengetragen werden und einer Komparatistik unterstellt ist.

Langfristig wünsche ich mir einen aktiven und offenen Austausch in einer AG-Migration, wo sowohl Berater*innen aus dem Gesundheitssystem, den Aidshilfen als auch anderen unterstützenden Institutionen beteiligt sind, ebenso wie die Communitys und mein Ressort, sodass man komplementäre Hilfsangebote und Lösungen findet und Doppelungen vermeidet. 

Jede Institution, Organisation und jeder Verein, der sich gegen Rassismus sowie für Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete einsetzt, besitzt unschätzbares Wissen.

Nur gemeinsam kann man die komplexen und multifaktoriellen Probleme in der HIV/Aidsarbeit angehen. Einige Menschen benötigen eher rechtliche Beratung, andere medizinische oder soziale Hilfe, wieder andere mentale Unterstützung. Daher können die Aidshilfen nicht allein Hilfeleistungen erbringen, sondern dies nur in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen vollbringen.

Einige Aidshilfen sind bereits sehr gut vernetzt, andere etwas weniger. Ich sehe daher einen Handlungsbedarf darin, diese unterschiedlichen Kooperationspartner*innen zu identifizieren und zu überlegen, wie man dieses Wissen idealerweise unter den Aidshilfen und unseren Vereinsmitgliedern verteilt und es noch besser an die Klient*innen bringt. Ein Ziel von mir ist es daher, eine Datenbank hierzu zu erstellen. Wie schnell das umgesetzt werden kann, wird natürlich von zeitlichen und finanziellen Ressourcen abhängen – wie so vieles.

Gibt es etwas, das du insbesondere Berater*innen in Aidshilfen vermitteln möchtest? Gibt es Bedarfe, die noch mehr Awareness bzw. Sensibilisierung brauchen?

Ich denke, dass bereits viel Gutes existiert und dass diejenigen, die diesen Artikel lesen, wahrscheinlich genuin interessiert sind. Jedoch glaube ich auch aus meiner Erfahrung in der Vermittlung interkultureller und transkultureller Themen an Medizinstudierende, dass strukturelle und erlernte Rassismen bisweilen so tief in den Strukturen, Diskursen und im kollektiven Denken verankert sind, dass es wichtig ist, sich immer wieder von diesen frei zu machen und Selbstreflexion zuzulassen. Jede*r von uns – und ich schließe mich hier ausdrücklich nicht aus – greift auf Stereotype zurück. Das ist zunächst nichts Verwerfliches; es ist nur wichtig, sich aktiv darauf einzulassen, diese zu hinterfragen, keine Angst davor zu haben, Fehler zu machen.

Es ist zentral, sich bewusst zu sein, dass Kommunikationsstrukturen oft von Hierarchien geleitet werden.

Die Klient*innen befinden sich hier in einer Situation der Bittsteller*innen; daher liegt es an den Beratenden, Kommunikationsformen auf Augenhöhe anzubieten und zu fördern. Dies erreicht man durch Beachtung räumlicher Gegebenheiten, antirassistischer Sprache und kultursensiblem Handeln. Besonders deshalb, weil viele Menschen mit Migrationsgeschichte bereits schlechte oder beängstigende Erfahrungen mit offiziellen Stellen gemacht haben und daher häufig eine abwehrende Haltung oder gar angsterfüllte Beziehung zu diesen internalisiert haben.

Gleichzeitig sollen und dürfen Gesundheitspersonal und Berater*innen sich nicht überfordern, denn auch ihre mentale Gesundheit ist nicht unendlich belastbar. Gespräche mit Kolleg*innen über schwierige Situationen sind wichtig; das heißt, Peer-to-Peer-Beratungsangebote wahrzunehmen oder gegebenenfalls eine Beratung abzubrechen, wenn die eigene Belastungsgrenze erreicht ist. Schließlich sind wir alle Menschen. Wichtig ist nur, dass die Beratungen für alle zugänglich sind und man sich gegenseitig respektiert sowie kontinuierlich aus den Situationen lernt.

Was brauchst du an Ressourcen und Unterstützung, um deine Pläne und Arbeit gut umzusetzen?

Vom Fachpersonal, dem Gesundheitspersonal, den Berater*innen und konkret den Mitgliederorganisationen der DAH wünsche ich mir Feedback zu ihrer Arbeit mit und für Menschen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrung, um ein aktuelles Bild dieses Feldes zu erstellen. Ich möchte sehen, was im Bereich Migration bereits gemacht wurde, wo Probleme bestehen, welche Gründe es dafür gibt, was die Mitarbeitenden in den Mitgliedsorganisationen vom Dachverband brauchen und wie wir als DAH angepasste Angebote entwickeln können. Denn ein zentraler Teil meiner Arbeit ist es, Erleichterungen und Hilfestellungen bereitzustellen, damit die lokale Arbeit erleichtert wird.

Meine große Hoffnung ist eine gemeinsame aktive Task Force Migration in der HIV/Aids-Prävention

Zu diesem Zweck werde ich Anfang März eine Umfrage an alle Mitgliedsorganisationen verschicken. Die Ergebnisse sollen anschließend analysiert werden, und alle Interessierten sind eingeladen, in einem Zoom-Meeting die Resultate mitzudiskutieren. Meine große Hoffnung ist, dass dies zu einer aktiven Task Force bzw. Arbeitsgruppe Migration führt, in der gemeinschaftlich erarbeitet wird, welche Bedarfe in der HIV/Aids-Prävention für den Bereich Migration bestehen, sodass wir gemeinsam dazu kommen, diese zu erfüllen. Denn letztendlich ist das Ziel, Synergieeffekte aus den verschiedenen Erfahrungen zu schaffen, um trotz sinkender Ressourcen effizient Menschen mit Migrationsgeschichte sowie das Personal zu unterstützen und zu entlasten, die sich dieser wichtigen Arbeit widmen.

Daher brauche ich vor allem die Bereitschaft der Berater*innen, Referent*innen und  Mitarbeiter*innen der Institutionen an der Umfrage teilzunehmen und den  Willen, die Strukturen und Diskurse zu hinterfragen und Migration sowie Flucht als Thema weiter ernst zu nehmen!

Liebe Laila, ganz herzlichen Dank!

Kontakt:

Laila Prager, Deutsche Aidshilfe, laila.prager@dah.aidshilfe.de