Einsamkeit in der Lockdownzeit?
Wie die Covid-19 Pandemie Community und Arbeit in Aidshilfe verändert.
Das nachfolgende Interview führte denkraum – das Magazin der AIDS-Hilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth mit Steffen Taubert, Referent für Psychosoziales, Beratung und Qualitätsentwicklung der Deutschen Aidshilfe.
Es gibt eine Reihe von Studien zu Corona und LGBTIQ*/Menschen mit HIV. Was sagen diese Studien? Welche Erkenntnisse ziehst du aus den Studien?
Für Deutschland gibt es zwei interessante Studien: eine Befragung, an der die Berliner Charité beteiligt ist, und eine Erhebung von Daten durch einen Zusammenschluss des LSVD mit dem Bundesverband Trans, IM e.V. und der Magnus Hirschfeld Stiftung. Die Charité wertete die Antworten von LGBTIQ* aus, die an einer großangelegten Online-Befragung zum Befinden während der Corona-Pandemie teilnahmen. In der anderen Studie wurden Multiplikator*innen aus queeren Organisationen befragt. Beide Erhebungen kommen zum selben Ergebnis, das auch Studien aus anderen Ländern zeigen: Zugenommen hat in der Lockdownzeit die Häufigkeit des Auftretens von psychischen Beeinträchtigungen, vorneweg Depressivität und Leiden an Einsamkeit. Die Charité-Studie zeigte, dass asexuelle Menschen, trans* Menschen und non-binäre Menschen von Einsamkeit in der Pandemie-Zeit besonders betroffen sind.
Was hat die Pandemie mit queeren Menschen und Menschen mit HIV gemacht, wo doch ohnehin schon vor der Pandemie Studien belegt hatten, dass sie in Bezug auf psychische Erkrankungen eine vulnerable Gruppe sind?
In der Tat wissen wir schon lange, dass LGBTIQ* häufiger als die Gesamtbevölkerung mit Beeinträchtigungen ihres psychischen Wohlbefindens infolge von Diskriminierung und Minderheitenstress zu tun haben. Im Fokus stehen erhöhte Depressivität und Ängste. Dies zeigte, bezogen auf MSM, zuletzt auch die EMIS-Studie; besonders betroffen sind hier vor allem jüngere Männer. Einige Studien verweisen auch auf eine Zunahme von tendenziell ungesunden Bewältigungsstrategien, wie z.B. auf häufigeren Substanzkonsum. Ähnliche Daten gibt es auch für trans* Menschen. Für jene Menschen, die schon vor der Pandemie Probleme hatten, sich psychisch stabil zu halten, sind Lockdown oder Quarantänephasen Stressoren, die zusätzlich destabilisieren können. Das gilt natürlich auch für die Corona-Infektion.
Faktoren, die stabilisieren oder auch destabilisieren können, sind die Lebens- und Arbeitssituationen, in denen sich die Menschen befinden. Nicht wenige queere Menschen arbeiten in Umfeldern, die etwas mehr Freiheit versprechen als herkömmliche Arbeitsverhältnisse. Doch Freiberufler*innen und Menschen, die im Kulturbereich oder der Gastronomie tätig sind, waren jene, die von Einnahmeverlusten zuerst betroffen waren. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie treffen weiterhin besonders Menschen, die Diskriminierung in ihrer Herkunftsfamilie erfahren oder in Gemeinschaftsunterkünften leben . Sie haben keine Ausweichräume und berichteten in den Beratungsstellen von vermehrten Gewalterfahrungen. Hinzu kommt, dass für viele die Community als Stütze verloren ging. Queere Ersatzfamilien oder Sexnetzwerke kamen auch in der öffentlichen Debatte nicht vor – im Gegenteil: die monogame Partnerschaft wurde eingefordert. Dies sind Entwicklungen, die die psychische Gesundheit natürlich stark beeinflussen und bei Menschen mit entsprechender Vulnerabilität Depressivität und Angststörungen verstärken können.
Wie ist es mit trans* Personen? Welche Auswirkungen gab es zum Beispiel in Hinsicht auf OP-Verschiebungen/Transitionen?
Eine internationale Online-Befragung von trans* Menschen ergab, dass über 36 % der Befragten Einschränkungen der Versorgung erfahren mussten. Befragte berichteten von nicht durchgeführten Epilationsbehandlungen, verschobenen oder gleich ganz abgesagten geschlechtsangleichenden OPs, Einschränkungen bei der OP-Nachsorge und Unterbrechungen bei der Hormontherapie. Die Befragung zeigte insgesamt auch eine hohe psychische Belastung, unter anderem auch, weil das psychotherapeutische Angebote phasenweise eingeschränkt war.
Welche Veränderungen siehst du in der Community? Auch in Bezug auf die Strukturen in der Szene, Beratungsstrukturen & Angebote?
Unabhängig von Corona gab es ja schon vorher ein schwules Kneipensterben. Ob die Lockdowns, der Rückgang von Besucherzahlen und die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation diesen Prozess beschleunigen, werden wir sehen. Zu befürchten ist sicherlich, dass Preise erhöht werden – und das kann bedeuten, dass Menschen mit wenig Einkommen noch weniger Optionen zum Teilhaben an Szene-Kultur haben.
In meinem Arbeitsgebiet sehe ich ansonsten vor allem einen enormen Schritt in Richtung Digitalisierung von sozialer Arbeit. Ich bin schon beeindruckt, wie schnell und kreativ Aidshilfen neue Angebote geschaffen haben: sei es Videoberatung, Chat-Beratung über Messenger-Dienste oder digitale Ergebnismitteilung und Terminvergabe in Checkpoints. Einiges gab es auch schon vorher, aber Corona hat Vieles beschleunigt. Ich finde das grundsätzlich klasse, weil so vielleicht auch Menschen erreicht werden können, die bisher nicht zur Aidshilfe kamen. Aber es gibt natürlich auch Herausforderungen. Man muss sich mit technischen Fragen und Fragen des Datenschutzes auseinandersetzen und auch schauen, dass man mit den neuen Angeboten niemanden verliert. Denn nicht jede*r ist digital so fit oder hat die entsprechende Technik. Als Dachverband versuchen wir, unsere Mitgliedsorganisationen bei diesen Digitalisierungsprozessen zu unterstützen, bieten Schulungen an und erweitern unsere eigenen digitalen Angebote stetig.
Wie hat sich seit bzw. in der Pandemie unsere Sexualität verändert?
In den ersten Monaten 2020 gab es in vielen Testberatungsstellen und der bundesweiten Telefonberatung einen Rückgang an Beratungsanfragen; vermutlich, weil die Menschen insgesamt weniger Sex hatten. Sexarbeit war verboten und auch andere Orte für sexuelle Begegnungen waren geschlossen. Mittlerweile scheinen viele wieder zu ihrem alten Sexualverhalten zurückgekehrt zu sein. Aber das ist natürlich nur ein Ausschnitt und wir alle kennen Menschen, die weiterhin sehr vorsichtig sind – sei es, weil sie oder nahe Angehörige ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf haben oder auch, weil Menschen grundsätzlich ein höheres Sicherheitsbedürfnis haben. Im persönlichen Umfeld habe ich auch erlebt, dass die Erfahrungen der letzten zwei Jahren traumatisierend wirken konnten und die Sorge um eine Corona-Infektion sich mit anderen Ängsten verschmolzen hat. Das kennen wir ja auch aus der HIV-Testberatung, wo wir relativ häufig auf Menschen mit irrationalen Ängsten vor HIV treffen, bei denen die Ängste aber vielmehr auf andere psychische Themen verweisen.
Welche Herausforderungen siehst du? Beziehungsweise: Wie schaffen wir es, wieder zusammenzukommen, Berührungsängste zu verlieren und wieder eigenen Bedürfnissen nachzugehen?
Das ist tatsächlich keine einfache Frage. Solange die Pandemie nach wie vor ein reales, wenn auch für die meisten Geimpften nicht mehr ein lebensbedrohliches, Gesundheitsrisiko ist, lässt sich ein entspanntes Miteinander nicht verordnen. Wir müssen uns langsam wieder aneinander und an Nähe gewöhnen und Austesten, was geht.
Vor allem gilt es, einen Umgang zu entwickeln, der niemanden ausschließt: weder Menschen mit hohem Schutzbedürfnis, noch Menschen, die sich wieder voll ins Leben werfen.
Was denkst du, was wir als Aidshilfe tun können? Wie können wir reagieren?
Aidshilfen könnten ihr Beratungsangebot auf sexualberaterische Fragen ausweiten und Menschen eine Hilfestellung bieten, die ihre Not damit haben, ihr Schutzbedürfnis mit dem Wunsch nach befriedigender und angstfreier Sexualität in Einklang zu bringen. Wir arbeiten in der DAH gerade daran, eine professionelle Weiterbildung in Sexualberatung aufzubauen, in der dieses Thema mit Sicherheit vorkommen wird.
Eine wichtige Aufgabe der Aidshilfen sehe ich aber auch im gesellschaftlich-politischen Bereich. Die Corona-Schutzregeln waren – als es weder Impfungen noch ausreichend Schutzausrüstungen gab – überlebenswichtige Maßnahmen. Ein Großteil der Maßnahmen orientierte sich jedoch an den Lebensrealitäten der Mehrheitsbevölkerung. Die normative Maßgabe, Sex nur mit der*dem festen Partner*in zu haben, ging an der Lebenswelt Vieler vorbei. Polygame Beziehungen wurden genauso wenig als selbstverständlich angesehen wie auch Sexarbeit, die für nicht Wenige die einzige Möglichkeit ist, Sexualität zu leben. Die Aufgabe von Aidshilfe sehe ich darin, da wachsam zu bleiben, wo es nicht um sinnvolle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie geht, sondern wo versucht wird, konservative und normative Wertvorstellungen durchzusetzen. Hier müssen wir gegensteuern, die Bedürfnisse unserer Communities in die Debatten einbringen und die Vielfalt unserer Identitäten und Lebensweisen verteidigen.
Welche positiven Entwicklungen siehst du, die unsere Zielgruppen mitnehmen können?
Für mich war es beeindruckend, zu sehen, was für eine große Solidarität es innerhalb der Community gab. Viele Szene-Einrichtungen konnten nur überleben, da Menschen zum Beispiel für Clubs und andere Szeneorte spendeten oder sich Menschen ehrenamtlich einbrachten.
Ansonsten sind die Lernerfahrungen, die wir in der Pandemie machen, sicherlich sehr unterschiedlich. In der Quarantäne oder im harten Lockdown sind wir plötzlich auf uns zurückgeworfen – eine Zeit, die sehr fordernd sein kann; vor allem dann, wenn die eigene Existenz bedroht ist: Sorgen um die eigene Gesundheit oder die von Freunden, Finanzprobleme, vielleicht auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Für manche Menschen mag es auch eine Gelegenheit sein, auf das eigene Leben zu schauen und dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben.
Ansonsten hoffe ich, wie Viele, dass wir es als Gesellschaft schaffen, die Herausforderungen, die die Pandemie an uns stellt, zu meistern. Dazu sollten wir nach meiner Meinung einander noch besser zuhören, Grenzen akzeptieren und stets bereit ein, eigene Positionen zu überdenken.
Das hier leicht gekürzte Interview wurde zuerst veröffentlicht in: denkraum- das Magazin der AIDS-Hilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth. Ausgabe Winter 2022.
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