Zur Bedeutung von Sexualberatung für die zukünftige Arbeit der Checkpoints
„In der Testberatung setzt sich Sexualität in Szene.“
Marco Kammholz, freiberuflicher Sexualpädagoge (gsp) und Mitarbeiter im Checkpoint der Aidshilfe Köln, beschreibt für HIV-Beratungaktuell, wie er sich Sexualberatung in der Aidshilfe vorstellt.
Ein Beitrag aus HIV-Beratungaktuell 2021/1 / aktualisiert im Juli 2023
Du bist seit Kurzem Berater im Checkpoint Köln: Was ist Dein Verständnis von HIV- und STI-Testberatung?
Das ist eine Frage der Perspektive. Testangebote von Aidshilfen sind in erster Linie öffentliche Gesundheitsdienstleistungen, die von der Mehrheit ihrer Nutzer*innen auch in genau diesem verhaltenspräventiven Sinne aufgesucht werden. Die Menschen wollen Informationen, Beratung und vor allem die Testung hinsichtlich sexuell übertragbarer Infektionen. Wir wissen wiederum, dass Public Health und sexuelle Gesundheit neben dem körperlichen, vor allem auch das psychische und soziale Wohlergehen berühren. Weil das nicht nur eine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Frage ist, findet in den Angeboten selbstverständlich auch Verhältnisprävention statt.
Mit Perspektive der Sexualberatung und der sexuellen Bildung kann ich persönlich die Arbeit aber nochmal anders verstehen: Ich denke, in der HIV- und STI-Testberatung setzt sich Sexualität in Szene. Jede Testberatung ist auch eine Aufführung der Vorstellungen von Sexualität, der sexuellen Erfahrungen, Wünsche und Ängste – sowohl der Klient*innen als auch der Berater*innen.
Lust und Scham liegen nah beieinander
Das finde ich dann besonders eindrücklich, wenn ich in der Beratungs-Sequenz den Eindruck bekomme, die Klient*innen legen in gewisser Hinsicht Rechenschaft über ihr bisheriges sexuelles Leben ab – oder fühlen sich dazu aufgefordert. Darin zeigt sich zum Beispiel, wie nahe Lust und Scham, Genussfähigkeit und Verletzlichkeit beieinander liegen. Dieses Verhältnis ist eben kein rein medizinisch behandelbares und erst recht kann es nicht mit biomedizinischen Tests erfasst werden. Deshalb bleiben manche Klient*innen nach der Ergebnismitteilung – unabhängig vom Testergebnis – so unbefriedigt oder gar enttäuscht zurück. Und deshalb spürt man als Berater*in immer wieder: „Da ist noch was.“
Das verdeutlicht: Wer eine HIV- und STI-Testberatung aufsucht, macht Sexualität zum Thema. Das ist in aller Regel ein widersprüchlicher Vorgang. Aber gerade deshalb hat die Testberatung so viel Potenzial. Die langjährigen Berater*innen wissen unglaublich viel über Sexualität und die Dynamik sexuellen Begehrens. Ich glaube, Aidshilfen nutzen diesen Fundus an Wissen und Erfahrung noch nicht ausreichend. Das mag unter Anderem an der thematischen Einengung auf das Thema Krankheit, Infektionsrisiko und Testung liegen.
Wie kann man den Raum für andere Themen öffnen: Drogen, psychische Problem, sexuelle Zufriedenheit?
Indem man sein Gegenüber ernst nimmt und dabei die eigene Haltung gegenüber Sexualität kritisch prüft. Das heißt auch, dass man sich als Berater*in nicht auf die medizinische oder körperliche Dimension des Sexuellen zurückzieht, oder eben nur dann, wenn es gefordert ist. Sein Gegenüber ernst zu nehmen heißt aber auch, dass dessen Beratungsanliegen respektiert wird. Nicht wenige Klient*innen wollen eine sachbezogene Beratung und nicht mit anderen Themen behelligt werden.
Die Frage hinter der Frage
Allerdings tritt ja dennoch ziemlich häufig, die „Frage hinter der Frage“, „das Thema hinter dem Thema“ in Erscheinung. Hinter der Angst, sich mit einer STI angesteckt zu haben, steht die Verletzung durch den Ex-Partner, der einen betrogen hat. Zur Gewissenhaftigkeit gegenüber der regelmäßigen Testung gesellt sich das Schuld- oder Schamgefühl über eine Vielzahl wechselnder Partner*innen und über Sex bei dem Risiko lustvoll in Kauf genommen wurde. Neben der Panik über die als extrem bedrohlich fantasierten körperlichen Symptome taucht die Ahnung auf, dass das alles mehr mit Sexualität als mit einer Infektion zu tun hat. Auch wenn die Zeit in der Testberatung sehr begrenzt ist, lohnt es sich möglichst offenherzig auf die sexuellen Fragen einzugehen, die einem – explizit und implizit – entgegentreten.
Hat es denn Spaß gemacht?
Manchmal ist ein „Hat es denn Spaß gemacht?“ die viel wichtigere Frage als die bloße Klärung des Risikos oder der Übertragungswahrscheinlichkeit. Berichtet eine Klientin von einer neu begonnenen Beziehung, kann ein ehrliches „Herzlichen Glückwünsch“ ein Türöffner für weitere Themen sein. Berichtet ein Klient von einer nicht enden wollenden Odyssee abakterieller Infektionen in der Harnröhre und von zig Arztbesuchen ohne hilfreichem Ergebnis, könnte die Frage erlaubt sein, wie er sich eigentlich fühlt und was er sich von der Testberatung erhofft. Meistens schwingen solche Gespräche ganz faszinierend hin und her: Medizinischer Fakt, starke Gefühle und tiefe Sehnsüchte, einfache Fragen über die sexuelle Funktion von Penis oder Vagina, große Fragen darüber, wer man eigentlich sein will. Am Ende der Kurzberatung im Checkpoint steht aber die Entscheidung darüber, ob und was getestet wird. Das ist vielen Fällen richtig so, aber in einigen eben auch unterkomplex. Oder anders gesagt: Manchmal muss Qualität gegenüber der Quantität den Vorzug erhalten. Denkt man darüber systematisch nach, hat das auch eine Veränderung der Angebotsstruktur und der Adressierung der Zielgruppen zur Folge.
Welche Erfahrungen hast Du damit gemacht, das Thema sexuelle Zufriedenheit anzusprechen?
Ich denke, man braucht in Bezug auf Gespräche über sexuelle Zufriedenheit – neben der dementsprechenden Haltung gegenüber Sexualität- die Beratungskompetenz, das Anliegen verstehen zu wollen und diesem bei Bedarf Zeit einzuräumen. Zu fragen wäre, ob es nicht auch die nuancierte Einladung an die Klient*innen braucht, über Sexualität sprechen zu können. Meine Beratungsgespräche enden immer mit: „Hast du noch eine Frage rund um das Thema Sexualität?“
Ich weiß, dass die Kolleg*innen in München im Erhebungsbogen und im Beratungsgespräch die Frage nach sexueller Zufriedenheit stellen und damit spannende Erfahrungen machen. Im Kölner Checkpoint wird denjenigen Klient*innen, die größeren Gesprächsbedarf haben, wenn möglich auch etwas mehr Zeit eingeräumt.
Was ist im Rahmen der Test-Beratung leistbar?
Bei Beratungszeiten von max. 15 Minuten nicht sehr viel, wenngleich es ja Beratungsansätze gibt, die gerade in den sehr kurzen Begegnungen den größten Nutzen sehen. Am Ende einer Testberatung, die das Ergebnis hat, dass tiefergehende sexuelle Fragestellungen oder Konflikte von Bedeutung sind, bleibt vor allem die Verweisungskompetenz wichtig. Aber warum sind Aidshilfen eigentlich nicht Anlaufstellen für alle Facetten der Sexualität und nicht nur für die medizinischen und psychosozialen Konsequenzen sexuell übertragbarer Krankheiten?
Wären hier also zusätzliche Angebote von Nöten?
Das sind mindestens die einrichtungsinternen Beratungsangebote zu HIV, PrEP, betreutem Wohnen und Sozialrecht. Das können darüber hinaus Gruppenangebote sein, wie wir sie in der Kölner Aidshilfe für schwule und bisexuelle Männer zusammen mit dem Beratungszentrum rubicon anbieten. Wir organisieren sexuelle Bildungsangebote, die in Form von Workshops zu unterschiedlichen Themen stattfinden: Analsex, Lustbejahung & Geilheit, Cruising, sexuelle Selbstbestimmung. Ziel ist es, mit anderen Männern ins Gespräch und ins Nachdenken über (die eigene) Sexualität zu kommen. Das ist in aller Regel eine ziemlich unterhaltsame und beglückende Angelegenheit. Vor allem, weil die biografische Erfahrung, dass man über Sex nicht sprechen soll und dass diese Gespräche unangenehm und intimitätsverletzend seien, korrigiert wird.
Was wäre Deine Vision für einen Checkpoint der Zukunft?
So ein bisschen sind Aidshilfen ja Eltern erwachsen gewordener Kinder. Es beginnt ein neuer Lebensabschnitt und das ist an vielen Stellen bemerkbar. Ich persönlich sehe zukünftige Aidshilfen als Zentren für Sexualkompetenz. Das heißt, sie sind für mich Orte, an denen alle Dimensionen des Sexuellen – in denen immer auch Lernerfahrungen gemacht werden können – aufgerufen werden sollten. Nicht zuletzt sind Aidshilfen Räume schwulen, lesbischen und transgeschlechtlichen Selbstbewusstseins und sie sollten es unbedingt bleiben.
Für die Checkpoints sehe ich auf Dauer das größte Zukunftspotenzial in Angeboten der Sexualberatung. Ich denke an eine Art Checkpoint+. Dieses + steht für mich für den ganzen Überschuss, den die Sexualität fortwährend produziert, auch ganz ohne HIV und Aids im Übrigen. Konkret hieße das für mich: Wenn jemand mehr Gesprächsbedarf zur eigenen Sexualität hat, dann könnte es in Checkpoints Angebote der Sexualberatung geben, unabhängig von HIV-/STI-Tests und Risiken als Hauptthema.
Marco Kammholz, Werner Bock
Diesen Beitrag teilen