„Mehr als Du denkst“: Deutsche Aidshilfe setzt verstärkt auf Angebote der „Reisebegleitung“
In Anlehnung an den in der Öffentlichkeitsarbeit zu unserem 40-jährigen Jubiläum verwendeten Claim, kann durchaus gesagt werden, dass wir nunmehr für den Bereich der Sexualität noch mehr als bisher Maßnahmen zur „Reisebegleitung“ anbieten wollen. Diese Analogie geht auf Uwe Sielert zurück, eine der so bezeichneten „Päpst*Innen“ der Erziehungswissenschaften und Sexualpädagogik. Sielert möchte sich damit u.a. abgrenzen von längst überkommenen Vorstellungen einer „Sexualerziehung“. Maßnahmen der „Sexuellen Bildung“ sollen dazu dienen, Horizonte zu erweitern, Erkundungen zu bekannten oder weniger bekannten Gebieten ermöglichen, und realistische Vorstellungen von dem noch zu bereisenden Raum vermitteln: „Reisehilfe durch sexuelle Bildung meint daher immer auch Persönlichkeitslernen, um das wirklich Gewollte vom bloß Nachgelebten zumindest im Ansatz unterscheiden zu können“ (2022: 27f./29).
Ebenfalls soll damit betont werden, dass Maßnahmen der „Sexuellen Bildung“ für alle Altersgruppen relevant sind, nicht nur für junge Menschen, die am Beginn ihrer Reisetätigkeiten stehen, und die wir schon stark in der verbandlichen Jugendarbeit in Schulen und Betrieben fokussieren. Diese paradigmatische Festlegung findet auch aktuell auf Ebene der Wissenschaften eine vielbeachtete Zäsur durch die Veröffentlichung eines „Praxishandbuch Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter“ (Böhm et al. 2022), welches wir zur weiterführenden Arbeitsgrundlage sehr empfehlen.
Im Fachbereich MSM haben wir in den letzten Jahren mit einer Reihe von Expert*Innen und in zahlreichen workshops, Facharbeitsgruppen und Fortbildungen Bedarfe erarbeitet, die wir nun in einem Konzeptpapier dem Verband zur Verfügung stellen möchten. Zum einen sind die dort beschriebenen grundlegenden Aspekte auch relativ einfach auf andere Schlüsselgruppen unserer Arbeit übertragbar; andererseits wollen wir mit dem Konzeptpapier auch die spezifischen Kontexte einer sexuellen Bildungsarbeit mit MSM darstellen. Wir sehen dabei auch eine direkte Verbindung zu der im Fachbereich Medizin, Beratung und Qualitätsentwicklung verstärkten und notwendigen Ausrichtung an Maßnahmen zur „Sexualberatung“.
Das hier veröffentlichte Konzeptpapier erhält auch durch die Tatsache eine Relevanz, dass es vor Ort manchmal schwierig zu sein scheint, Maßnahmen der „Sexuellen Bildung“ zu beantragen und für die Umsetzung notwendige Finanzmittel zu erhalten. Unsere Aufgabe sei schließlich die „Prävention“ und nicht etwa Sexuelle Bildung?! Dieser Fehleinschätzung wollen wir uns mit dem Konzeptpapier ebenfalls begründet entgegenstellen.
Der vermeintliche Widerspruch zwischen der Vermittlung von Informationen zu sexuell-übertragbaren Infektion, Übertragungsrisiken, Schutzoptionen und medizinischer Behandlung und dem gleichzeitigen Anspruch, Lust und Spaß zu unterstützen oder gar eine gesellschaftlich beschämte Sexualität zu valorisieren, begleitet uns seit Beginn der Arbeit. Das vorliegende Konzept verdeutlicht deshalb nochmal, dass Angebote im Bereich der Sexuellen Bildung erst die Voraussetzung für eine gelingende HIV-/STI-Prävention und Gesundheitsförderung darstellen. Sie können u.a. dazu beitragen, Sexuelles (Wünsche, Unbehagen, Praxis, Ambivalenzen und Konflikte) zunächst „besprechbar“ zu machen, Räume zur Reflexion und zum Lernen öffnen sowie auf Hilfen bei problematischen Entwicklungen hinweisen. Es sind Angebote, die eine selbstbestimmte Sexualität ermöglichen und zu einer „Sexuellen Gesundheit“ beitragen können, die weit mehr ist als die Abwesenheit sexuell-übertragbarer Infektionen.
Dirk Sander
- Maika Böhm, Elisa Kopitzke, Frank Herrath und Uwe Sielert (Hg.): Praxishandbuch Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2022
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