LearnADDICTION: Ein online Kurs zu ChemSex – aus europäischer Perspektive
ChemSex gehört mittlerweile in vielen zumeist schwulen Szenen zur Normalität. Wer in Dating-Apps unterwegs ist oder sich in größeren Städten in bestimmten Bars, Clubs oder Szenen bewegt, wird kaum daran vorbeikommen und mit der Frage konfrontiert sein, ob und – wenn ja – was er in sexuellen Settings konsumiert. Auch Männer, die keine der typischen ChemSex-Substanzen nehmen, müssen sich damit immer wieder mit ChemSex auseinandersetzen – sei es, wenn sie sich überlegen, auf eine Party zu gehen, auf der voraussichtlich konsumiert wird, sei es bei der Frage, inwieweit sie beim Sex mit Männern, die high sind, ihre eigenen Bedürfnisse erfüllen können.
Die enge Verknüpfung von Sexualität und Substanzen ist ein hervorstechendes Merkmal von ChemSex. Viele ChemSex-Nutzer konnten und können für sich eine gute Balance zwischen Sex mit Substanzen, Erholungspausen, Sex ohne Substanzen und für sie passenden, risikominimierenden Konsumformen finden. Wer das jedoch nicht immer schafft, war lange im System der klassischen Suchthilfe nicht richtig aufgehoben. Umgekehrt waren viele Aidshilfen und Beratungsstellen nicht auf die Bedarfe von ChemSex-Praktizierenden eingestellt. Hier hat die Deutsche Aidshilfe bereits ab 2019 mit dem quapsss-Konzept angedockt. Mit quapsss hatten Betroffene die Möglichkeit, ihren Konsum lebensweltnah und jenseits klassischer Abstinenzgebote zu reflektieren, sich auszutauschen und bei Bedarf Anschluss an weitere Unterstützungsangebote zu finden.
Die besonderen Herausforderungen rund um ChemSex stehen auch bei „LearnADDICTION“ im Fokus, einem vom spanischen UNAD-Netzwerk initiierten europaweiten Projekt. Daran waren neben UNAD und der Deutschen Aidshilfe Organisationen aus Portugal, Slowenien, Tschechien sowie den Niederlanden vertreten. (Abb. 0) Allein schon in ihrer Zusammensetzung spiegelte sich das Besondere an ChemSex wider: Klassische Suchthilfe meets Interessenvertretung für sexuelle Minderheiten. Über zwei Jahre lang haben diese Organisationen einen umfassenden und sogar kostenlos nutzbaren Online-Kurs zu ChemSex entwickelt, der seit Sommer 2024 in den Sprachen der beteiligten Organisationen und auf Englisch online ist.
Der Kurs zu ChemSex ist nicht das erste Modul auf www.learnaddiction.eu. Dort gibt es bereits Fortbildungen zu Verhaltenssüchten oder zu Abhängigkeit bei Jugendlichen. Dem war eine europaweite Umfrage unter Fachkräften im Suchtbereich vorausgegangen, aus deren Ergebnis die bisher bearbeiteten Themen hervorgingen. Mit der Deutschen Aidshilfe kam nun erstmals eine deutschsprachige Organisation dazu. (Abb. 1)
Wer das gesamte ChemSex-Modul durcharbeiten möchte, sollte sich insgesamt 120 Stunden Zeit nehmen. (Abb. 2) Das klingt erst mal sehr lang, führt aber dazu, dass Interessierte am Ende umfassend nicht nur über ChemSex im engeren Sinn informiert sind, sondern ChemSex auch im Kontext internationaler Drogenpolitik sowie vor dem Hintergrund der besonderen Situation sexueller Minderheiten und den damit verbundenen kulturellen Phänomenen verstehen können. Ausführlich werden Informationen zu verschiedenen Substanzen, deren erwünschte und unerwünschte Wirkweisen sowie umfangreiches Wissen zu Harm- und Risk-Reduction vermittelt.
Dabei beschränken sich die Inhalte nicht auf die Substanzen an sich – das wäre beim Thema ChemSex zu wenig. So werden auch Aspekte von sexueller und mentaler Gesundheit betrachtet. Dabei geht es klassisch um sexuell übertragbare Infektionen und den Umgang mit ihnen, aber auch um Übergriffe und Gewalt im Kontext von ChemSex sowie um die Folgen von sozialer Ausgrenzung und Marginalisierung, die ChemSex-Praktizierende häufig sowohl in ihrem bisherigen Leben als auch in Folge ihres Konsums erfahren haben und immer noch erfahren.
Das ChemSex-Modul auf der LearnADDICTION-Plattform richtet sich an Interessierte verschiedenster Zielgruppen. So können Mitarbeitende in Aidshilfen und Beratungsstellen aus dem queeren Bereich genauso wie solche aus der Suchthilfe profitieren. Aber auch Ärzt*innen und andere Akteur*innen im Gesundheitswesen können lernen, sensibler mit den Erfahrungen ihrer Klient*innen und Patient*innen umzugehen.
Das Modul ist in drei Einheiten aufgeteilt. Am Ende jeder Einheit finden die Nutzer*innen ein ausführliches Glossar und praktische Übungen, um das Gelernte zu vertiefen. (Abb. 3)
Nutzer*innen des ChemSex-Moduls sollten beim Durcharbeiten der Einheiten beachten, dass wegen der verschiedenen Hintergründe der beteiligten Organisationen unterschiedliche Ansätze und Konzepte in die Entstehung des Moduls eingeflossen sind. So gab es zum Beispiel viele Diskussion zum Begriff von ChemSex: Was ist ChemSex, was bezeichnen wir allgemeiner als sexualisierten Substanzkonsum? Folgen wir der Definition von David Stuart, die sich recht eng gefasst auf Männer* bezieht, die Sex mit Männern* haben, und die besondere Rolle bestimmter Substanzen im Zusammenhang mit einer von Dating-Apps geprägten Sexkultur hervorhebt? Darin spielen auch die Erfahrungen schwuler, bisexueller und anderer queer-männlicher Personen mit Minderheitenstress eine Rolle. Oder wird der Begriff auf alle Personen angewendet, die zum Beispiel unter dem Einfluss von Crystal online nach Sex suchen und dabei Schlagworte wie high and horny verwenden?
Aber auch bei der Bewertung bestimmter sexueller Praktiken bezüglich der Risiken der Übertragung von STIs wurden unterschiedliche Ansätze bei den beteiligten Organisationen deutlich. Das zeigt sich immer wieder auch im fertigen Modul.
Wenn Nutzer*innen den vorangestellten Hinweis beim Lesen und Bearbeiten der Einheiten im Hinterkopf behalten, dann ist das ChemSex-Modul des LearnADDICTION-Netzwerks eine hervorragende Möglichkeit, sich umfassend oder zielgerichtet in verschiedenste Aspekte des Phänomens ChemSex einzuarbeiten.
Stefan Müller
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