Aidshilfe Halle im Wandel
Seit 2013 bietet die DAH die Inhouse-Schulung „Ab in die Zukunft“ an. Viele regionale Aidshilfen haben sich seitdem mit Fragen der Zukunftsfähigkeit von Aidshilfe beschäftigt. In einer losen Reihe wollen wir Aidshilfen porträtieren, die sich auf den Weg in die Zukunft gemacht haben. Was ist daraus geworden? Den Beginn macht die Aidshilfe Halle. Werner Bock hat bei Martin Thiele, dem Geschäftsführer, nachgefragt.
Ein Beitrag aus HIV-Beratungaktuell 2021/2
Inklusiv, partizipativ, sexpositiv!
2017 habt Ihr an der Inhouse-Schulung „Ab in die Zukunft“ teilgenommen. Was war der Anlass dafür?
Die Hallesche Aidshilfe hat damals den Generationswechsel vollzogen, den ja zahlreiche andere Aidshilfen im Moment auch durchlaufen. Vorstände, die den Verein teilweise seit über einem Jahrzehnt geführt haben, haben sich zurückgezogen und so Platz für die nachrückende jüngere Generation gemacht. Zeitgleich fand auch im Team damals eine einschneidende Veränderung statt. Die Geschäftsführerin ist in den Ruhestand gegangen und zwei Kolleg*innen haben die Aidshilfe aus privaten Gründen verlassen. In einem Team also, das nur aus vier Personen besteht, sind drei innerhalb kürzester Zeit neu hinzugekommen.
Zugleich hat sich gerade in den letzten Jahren so wahnsinnig viel im HIV-Bereich getan und neue Themen und Aufgabenbereiche haben sich für Aidshilfe eröffnet. Wir standen in Halle also personell und thematisch an einem Neubeginn. Unter diesen Bedingungen haben wir uns natürlich Gedanken darüber gemacht, wie die Zukunft der Halleschen Aidshilfe aussehen könnte und wie wir uns moderne Aidshilfearbeit vorstellen und umsetzen wollen.
Was erschien dir damals besonders problematisch?
Als besonders hervorstechendes Problem erschien mir damals die Arbeit mit den vollkommen veralteten Bildern von AIDS und vermeintlich bemitleidenswerten „Betroffenen“, die sich auch in tradierten Angeboten wie dem allwöchentlichen Klient*innen-Brunch, dem ärgerlichen Spendendosenklappern zum WAT und der paternalistischen Haltung gegenüber den Ratsuchenden niedergeschlagen haben. Ich war froh, dass wir uns alle im Vorstand und im Team von Anfang an einig waren, daran etwas ändern zu wollen.
Mein Verständnis von Aidshilfe war immer ein klar politisches.
Mein Verständnis von Aidshilfe war zudem immer ein klar politisches und eng verbunden mit dem Konzept der Strukturellen Prävention. Daher war ich ein wenig verwundert, dass die Hallesche Aidshilfe keine klare politische Haltung und zivilgesellschaftliches Engagement keinen Platz in der Arbeit hatte. Ich hatte das Gefühl, dass verloren gegangen ist, was Aidshilfe für mich im Kern ausmacht – nämlich das Streiten für eine plurale und solidarische Gesellschaft.
Was waren seitdem wesentliche Entwicklungen?
Ich denke, die grundlegendste und im Arbeitsalltag spürbarste Entwicklung ist die hin zur „Agentur für sexuelle Gesundheit“. Neben HIV, AIDS und STI geht es uns mittlerweile expliziter um Themen der sexuellen Selbstbestimmung, des sexuellen Wohlbefindens und der Unterstützung eines „Happy Sexlife“. Unsere Beratungen bekommen immer häufiger den Charakter von Sexualberatungen. Das war in Aidshilfe natürlich schon immer Teil der Arbeit, wir geben solchen Themen in Beratung und Prävention jetzt aber viel mehr Raum und kommunizieren das auch klarer nach außen.
Wir achten viel mehr darauf, dass unsere Botschaften sexpositiv sind.
Die Ratsuchenden richten sich daher auch immer häufiger mit Fragen an uns, die über HIV oder STI hinausgehen, beispielsweise zu Problemen in Partner*innenschaften, unterschiedlichen Beziehungsformen oder sexuellen Orientierungen und Praktiken. Wir achten zudem viel mehr darauf, dass unsere Botschaften sexpositiv sind und Lust auf Sex machen, statt Angst davor.
In den vergangenen Jahren sind wir zudem politisch aktiver, knüpfen politische Netzwerke und mischen uns bei gesundheits-, sozial- und sexualpolitischen Fragen häufiger ein. Als Aidshilfe haben wir zu zahlreichen politischen Debatten eine Expertise, eine klare Haltung und damit auch etwas beizutragen – und genau das tun wir jetzt eben auch wieder öfter.
Was hast du dir einfacher vorgestellt? Was waren vielleicht aber auch positive Überraschungen?
Positiv in diesem Zusammenhang ist sicherlich, dass sich der Generationswechsel bei uns so schlagartig vollzogen hat. Die inhaltliche Modernisierung war daher auch kein konflikthafter oder schmerzhafter Prozess, wie ich es aus Erzählungen anderer Aidshilfen kenne, sondern ging recht reibungslos mit den personellen Veränderungen einher. Fragen, die in anderen Aidshilfen teilweise heiß diskutiert werden, waren bei uns nie Streitthemen. Über unsere Haltung zu Schutz durch Therapie oder zur PrEP haben wir beispielsweise nie kontrovers debattieren müssen, sondern waren uns immer einig.
Am liebsten hätten wir die Aidshilfe gleich komplett umgekrempelt.
Zugleich war der Neubeginn auch mit jeder Menge Arbeit verbunden. Die größten Hindernisse waren daher wohl unsere eigene Motivation und Euphorie. Am liebsten wären wir gleich alles auf einmal angegangen und hätten die Hallesche Aidshilfe komplett umgekrempelt. Wir haben aber schnell festgestellt, dass das so einfach nicht ist. Anfänglich hatten wir im Team entsprechend oft mit Überarbeitung zu kämpfen oder waren einfach enttäuscht darüber, dass wir uns noch mit den Altlasten beschäftigen mussten und die Modernisierung nicht von heute auf morgen umsetzbar ist.
Mittlerweile sind wir da entspannter, weil wir ja auch sehen, was wir in den letzten Jahren erreicht haben. Schwierig war anfänglich zudem die Zusammenarbeit mit den Kooperationspartner*innen. Wir sind ein recht junges Team und vielleicht hin und wieder ein wenig übereifrig. Das hat uns schnell den Ruf der jungen Wilden eingebracht. Mittlerweile werden wir aber genau dafür geschätzt und als professionelle Fachkräfte wahrgenommen. Das war ein hartes Stück Arbeit.
Wie sieht für dich eine moderne Aidshilfe aus, die auf der Höhe der Zeit ist?
Einerseits muss moderne Aidshilfearbeit natürlich stets mit der Zeit und vor allem den medizinischen Entwicklungen gehen. Aids ist eben nicht mehr das, was es mal war, und das bedeutet eben auch Abschied von gewohnten Arbeitsweisen und Angeboten. Das gilt auch für die Klientelisierung, die Menschen mit HIV in Aidshilfen immer wieder erfahren. Ein Mehr an Partizipation und eine stärkere Vernetzung mit den zahlreichen Selbsthilfeverbänden wäre hier wünschenswert.
Aidshilfen können sich zudem heute und in Zukunft auch nicht mehr nur mit HIV, Aids und anderen sexuell übertragbaren Infektionen beschäftigen, sondern müssen sich inhaltlich breiter aufstellen und ganzheitlich mit Themen der sexuellen Gesundheit, Sexualpädagogik und Sexualberatung auseinandersetzen.
Aidshilfe darf ihre eigene Geschichte nicht vergessen.
Andererseits darf Aidshilfe beim Blick in die Zukunft ihre eigene Geschichte nicht vergessen. Und das heißt für mich in erster Linie, dass Aidshilfe ein sozialpolitischer Akteur ist, der sich neben dem Kerngeschäft der Beratung und Prävention stets für eine Gesellschaft einsetzt, in der Menschen ohne Angst verschieden sein, leben und ficken können. Ich denke also, moderne Aidshilfearbeit muss auch wieder ein Stück weit zu ihren Wurzeln zurückkehren und sich repolitisieren. Sie muss sich wieder hör- und sichtbar einmischen, politisch engagierter, auch wieder streitbar und unbequem sein – vor allem vor dem Hintergrund einer mittlerweile etablierten rechtspopulistischen Partei, die all das infrage stellt und gefährdet, was uns als Aidshilfen ausmacht.
Was sind für Dich aktuell die wichtigsten Themen, die angegangen wer-den müssen?
Die Themen, die mir in letzter Zeit in Diskussionen immer wieder begegnen, betreffen Fragen danach, wie Aidshilfe das sein kann, was sie eigentlich sein möchte: inklusiv, partizipativ und sexpositiv. Das bezieht sich vor allem auf die Debatten um einen inklusiven Sprachgebrauch, das Verhältnis von Aidshilfe und HIV-positiver Selbsthilfe sowie das Verständnis von sexueller Gesundheit und dem damit verbundenen Arbeitsauftrag von Aidshilfen.
Mit Blick auf die Zukunft: Was macht dir Mut und Zuversicht, was macht dir eher Sorge?
Neben dem Kulturkampf, den die politische Rechte auch gegen uns führt, mache ich mir aktuell Sorgen über die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Aidshilfen und ihre Zielgruppen. Ich glaube aber trotzdem, dass wir „stärker als die Zeit“ sind, wie der Fachtag zur Aidshilfe in der Coronakrise im letzten Jahr gezeigt hat.
Ich habe das beste Team, das ich mir nur wünschen könnte.
Hier vor Ort in Halle stimmt mich dabei zuversichtlich, dass ich das beste Team habe, das ich mir nur wünschen könnte, und einen engagierten Vorstand, der uns stets unterstützt und den Rücken stärkt. Auf Verbandsebene macht mir Mut, dass sich Aidshilfe immer schon kritisch reflektiert und stets an die sich verändernden Bedingungen ihrer Arbeit angepasst hat, ohne aus den Augen zu verlieren, wofür sie im Kern steht. Und ich denke, mit dem Strategiepapier „Aufs Ganze schauen“ befinden wir uns erneut auf dem richtigen Weg in die Zukunft.
Werner Bock
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