Weg von der Randnotiz der Randnotiz

© DAH | Bild: Renata Chueire

Nadja Zillken, die neue Referentin für Frauen im Kontext von HIV, Hepatitis und STIs und weibliche Sexarbeit stellt sich vor

Eines kann man von Nadja schon mal sagen: Sie kam viel herum. Geboren in München, aufgewachsen in Köln, Studium in Amsterdam und Hamburg. Seit Oktober 2019 lebt sie in Berlin, wo sie seit Mai 2022 bei Hydra – Treffpunkt und Beratungsstelle zu Sexarbeit und Prostitution – gearbeitet hat. Seit Januar diesen Jahres ist Nadja die neue Referentin für Frauen im Kontext von HIV, Hepatitis und STIs und weibliche Sexarbeit in der DAH. Hier erzählt sie über sich und über Herausforderungen und Pläne auf der neuen Stelle. Werner Bock stellte die Fragen.

Nadja, was hat Dich an der Stelle gereizt? Warum hast Du Dich darauf beworben?

Durch meine Arbeit bei Hydra bin ich ja schon sehr mit den Themen und den aktuellen Herausforderungen beim Thema Sexarbeit vertraut. Ein Schwerpunkt bei Hydra war die Gesundheitsberatung für Sexarbeitende- natürlich auch HIV/STI-Beratung. Gleichzeitig ging es um das Thema „sicheres Arbeiten“ – also wie kann ich Grenzen setzten?  An der neuen Stelle reizt mich, dass ich meinen Berlin-Blick auf die Perspektive der Bundesebene ausweiten kann.

Zudem erlebe ich oft, dass das Thema Sexarbeit eher als Randnotiz vorkommt. Obwohl so gut wie jeder erwachsene Mensch zumindest schon einmal Pornos gesehen hat, bleibt Sexarbeit doch ein „Schmuddel-Thema“, welches entweder hochstigmatisiert oder als inhärent gewaltvoll dargestellt wird.

Das liegt vielleicht daran, dass sich viele Menschen gar nicht bewusst sind, dass Sexarbeit absolut vielfältig ist. Sexarbeiter*innen sind nicht nur vermeintlich arme Frauen aus Osteuropa, die in prekären Verhältnissen auf dem Straßenstrich sexuelle Dienstleistungen anbieten und „gerettet“ werden müssen. Sexarbeiter*innen können auch Postbot*in, Student*in oder Steuerberater*in sein und parallel als Sexarbeiter*in an verschiedensten Arbeitsorten wie Clubs, Bordellen oder im Internet arbeiten. Insbesondere weiblich sozialisierte oder weiblich gelesene Menschen verrichten massenhaft systemrelevante unbezahlte Care-Arbeit. Die Sexarbeit bietet sich oft als Kompensationsmechanismus für kapitalistische Zwänge an, mit denen wir alle zu kämpfen haben. Es ist mir wichtig, diese ganze Bandbreite im Blick zu haben.

Wo siehst Du die größten Herausforderungen beim Thema Sexarbeit?

Nach wie vor ist es wichtig, einen kritischen und wachsamen Blick auf die Entwicklungen beim Thema Prostituiertenschutzgesetz zu haben. Es gibt verschiedene Gruppen und Akteur*innen in Deutschland, die das Gesetz am liebsten verschärfen und Kund*innen von Sexarbeiter*innen kriminalisieren wollen, wie das beim sog. Nordischen Modell in Schweden oder Norwegen bereits der Fall ist. Ich bin überzeugt, dass das genau der falsche Weg ist. Eine solche Regelung würde viele Sexarbeiter*innen dazu zwingen, ihre Dienste in der Illegalität anzubieten. Für Beratungsstellen würde es viel schwieriger, Zugang zu Sexarbeiter*innen zu bekommen, um sie über HIV- und STI-Prävention zu informieren oder allgemein über sicheres Arbeiten und mentale Gesundheit ins Gespräch zu kommen.

Abschiebungen, Gewalt, Ausbeutung, Infektionsraten und menschliche Tragödien würden auch in Deutschland steigen

Nadja Zillken, DAH

Wenn alle relativ sicheren Arbeitsorte in der Sexarbeit kriminalisiert werden, Vermieter*innen an Sexarbeitende aus Angst aufgrund von „Verdienst an Prostitution“ geahndet zu werden nicht mehr vermieten und Jugendämter bei Sorgerechtsstreitigkeiten häusliche Gewalt als weniger schädlich als die Tätigkeit in der Sexarbeit einschätzen, dann werden sich Menschen in der Sexarbeit nicht mehr outen und erst recht nicht mehr leicht auffindbar sein. Abschiebungen, Gewalt, Ausbeutung, Infektionsraten und menschliche Tragödien würden auch in Deutschland steigen, so wie es in Schweden bereits der Fall ist.

Eine staatliche Kriminalisierung oder Reglementierung der Sexarbeit kommt immer einher mit menschenunwürdigen Auswirkungen in Bezug auf Migrationskontrolle, der Aushebelung von Grundrechten für alle Menschen denen Sexarbeit zugeschrieben wird und einer Verschlechterung der (gesundheitlichen) Lage von Sexarbeitenden.

Ein weiteres wichtiges Thema sind die strukturellen Verschiebungen der Sexarbeit durch die Covid-Pandemie: Sexarbeiter*innen konnten durch die gesetzlichen Beschränkungen fast ein Jahr lang nicht arbeiten. Teilweise fand Sexarbeit illegal statt oder hat sich ins Online-Geschäft verlagert. Dadurch haben sich aber bestehende Strukturen vor Ort aufgelöst und Sexarbeit findet isolierter statt.

Zudem gab es einen immensen Wechsel: Durch Corona sind viele langjährige Sexarbeiter*innen ausgestiegen, dadurch ist viel impliziertes Wissen in den Sexarbeiter*innen-Communities verloren gegangen. Natürlich sind auch neue Sexarbeiter*innen dazu gekommen. Hier geht es darum, die Neueinsteiger*innen mit dem notwendigen Wissen bezüglich Gesundheit und sicherem Arbeiten via Anbindungen zu sicheren Vernetzungspunkten mit anderen Kolleg*innen zu versorgen. 

Dein zweites Aufgabengebiet ist das Thema der HIV-positiven Frauen. Was ist Dir dabei besonders wichtig?

Mir ist wichtig einen Schwerpunkt auf die Peer-to-Peer-Vernetzung zu legen. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen sich Frauen unter sich austauschen können, denn die Lebenswirklichkeit und die Bedürfnisse von Frauen mit HIV unterscheiden sich in vielen wesentlichen Aspekten von den Menschen mit anderen Genderidentitäten. Es ist mir wichtig, für Frauen Treffpunkte zu schaffen, um den Fokus bewusst auf ihre Themen zu legen. Frauenthemen sollen nicht nur als Randnotiz vorkommen.

Emotionale Arbeit ist weiblich sozialisierten oder weiblich gelesenen Menschen durch patriarchale Genderrollen anerzogen. Sie haben schnell das Gefühl, sich um andere kümmern zu müssen. In Settings, in denen auch cis Männer präsent sind, greifen schnell traditionelle Rollen und Dynamiken. Die Konsequenz ist oft, dass insbesondere Frauen und weiblich gelesene Personen – auch in Settings in denen es eigentlich um sie gehen soll – automatisch weiter für andere Menschen „arbeiten“.

Der Fokus auf Themen, die sich nicht explizit auf cis-männliche Bedürfnisse ausrichten, geht regelmäßig unter. Hinzu kommen persönliche, kulturelle und viele weitere Faktoren die ausschließend für Frauen wirken können, wenn keine expliziten Räume für FLINTA* (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen) zur Verfügung gestellt werden.  

Weibliche Sexualität wird viel zu häufig nur im Kontext der Schwangerschaft und Schwangerschaftsverhütung gesehen und gedacht. Sie bleibt im Dienst von jemanden, sei es der Gesellschaft, der Familie oder dem Partner. Weibliche Lust ist hochstigmatisiert und ist, besonders außerhalb von Räumen für Frauen, weiblich sozialisierten oder/und weiblich gelesenen Menschen, nur schwer besprechbar. Die Gesellschaft nimmt weibliche Sexualität und Lust nicht ernst, solange sie nicht für jemand anderes einen Mehrwert bedeutet.

Da HIV mit ganz eigenen Stigmatisierungen kommt, muss anerkannt werden, dass die Mehrfachstigmatisierung die HIV-positive Frauen erleben, nicht in der Gemeinschaft mit anderen Genderidentitäten aufgefangen werden kann. Sichere Räume für Frauen, weiblich sozialisierte und weiblich gelesene Menschen sind und bleiben weiterhin essenziell.

Werner Bock