Lebensweltorientierte Sexualberatung: Erfahrungen aus der Praxis

2023 bot die Deutsche Aidshilfe zum ersten Mal die Fortbildung „Lebensweltorientierte Sexualberatung“ an. Daphne Cisneros und Tom Schleberger erzählen im Gespräch mit Werner Bock was sie zu dieser Fortbildung motiviert hat und was sie Neues gelernt haben
Tom arbeitete in den letzten Jahren in unterschiedlichen Bereichen, z. B. als Präventionist bei Herzenslust, der MSM*-Kampagne in NRW, als Berater im gay-health-chat oder in der Testberatung im Checkpoint Düsseldorf. Für ihn sind es Erfahrungen, die er bei vielen Präventionseinsätzen an Orten der schwulen Szene gemacht hat, die ihn motivierten, an der Sexualberatungs-Fortbildung teil zu nehmen: „Ich habe gemerkt, dass es in den Gesprächen oft um weit mehr als nur um HIV oder die Frage geht, wie man sich vor STIs schützen kann“, erzählt Tom. Diese „Themen hinter den Themen“ haben ihn interessiert, seien es Fragen von sexuellen Grenzverletzungen, Sexsucht oder Ängste, vermeintlichen sexuellen Anforderungen nicht gerecht werden zu können. „Gleichzeitig hat es mich gereizt, etwa Neues über mich selber zu lernen, eigene Blockaden zu hinterfragen und mich weiterzuentwickeln.“, sagt Tom.
Wie zufrieden bist Du mit Deinem Sexualleben?
Für Daphne, Psychologin bei der Münchner Aidshilfe, gab es ein Aha-Erlebnis bei ihrer Beratungsarbeit im Checkpoint. Im Fragebogen, den Personen vorab ausfüllen können, die sich testen lassen möchten, wurde die Frage neu aufgenommen: „Wie zufrieden bist du mit deinem Sexualleben?“ Sie war überrascht, wie dankbar viele Ratsuchende auf dieses Gesprächsangebot reagierten. „Vielleicht liegt es daran, dass es vielen Menschen nicht leichtfällt, über dieses Thema mit dem*der Partner*in oder mit Freund*innen zu sprechen“ vermutet Daphne. In der Beratung gibt es nun einen geschützten Raum dafür.
Gleichzeitig stand die Münchner Aidshilfe vor der Frage, wie sie sich neu ausrichten möchte. Eine Antwort darauf war, die Sexualberatung als neues, eigenständiges Angebot zu etablieren. „Es war uns jedoch auch klar, dass wir nachweisen müssen, dass wir dafür qualifiziert sind“, erzählt Daphne.
Ich habe gemerkt, da ist noch so viel, was ich gar nicht auf dem Schirm hatte
Der Fortbildung liegt ein Blended-Learning-Konzept zugrunde, das sich über eineinhalb Jahre erstreckt und aus Präsenztreffen, Online-Modulen sowie begleiteten Supervisionseinheiten besteht. Dabei wurden eine Vielzahl von Themen behandelt, wie zum Beispiel die sexuellen Entwicklungsphasen von der Pubertät bis ins hohe Alter, die Anatomie der Geschlechtsorgane einschließlich Neogenitalien sowie die Themen Kinderwunsch und ungewollte Kinderlosigkeit. Ein Schwerpunkt lag zudem auf der Sexualberatung in queeren Lebenswelten, da dieses Thema bei anderen Anbietern oft zu kurz kommt.
Neben der Wissensvermittlung nimmt die Selbstreflexion, unter anderem auch über eigene Werte und Moralvorstellungen, einen großen Raum ein. Das war manchmal herausfordernd, wie Tom berichtet: „Die Körperübungen beim ersten Live-Wochenende kosteten mich zunächst Überwindung, und ich musste Hemmschwellen überwinden. Ich dachte, ich wäre schon sehr offen, aber ich habe gemerkt, dass da noch so viel ist, was ich gar nicht auf dem Schirm hatte. Es sind viele Denkmauern gefallen.“
Man merkt, wie schwer es ist, sich zu öffnen
„Beratung zu HIV war eigentlich ja schon immer auch Sexualberatung, es ging schon immer um eine positive Haltung zum Thema Sexualität und mit Menschen über Intimstes zu sprechen, war schon immer Aidshilfearbeit,“ sagt Daphne.
„Durch die Weiterbildung habe ich jetzt jedoch eine tiefere Unterfütterung durch die vermittelten fachlichen Inhalte erhalten.“ Auch Daphne war es wichtig, dass es nicht nur um eine wissenschaftlich ausgerichtete Weiterbildung ging, sondern dass es viele Möglichkeiten gab, eigene Erfahrungen zu sammeln. „Eine Übung bestand darin, unsere eigene Sexualität als Bild zu malen“, erzählt sie. Damit aber nicht genug: In der Gruppe wurden Paare gelost, um dann über die Bilder zu sprechen. „Einer wildfremden Person über meine Sexualität zu erzählen, war eine Überwindung, aber auch eine tolle Erfahrung. Man merkt, wie schwer es zunächst ist, sich zu öffnen.“ Diese Erfahrung schafft gleichzeitig Verständnis und Empathie. „Wir sind ja schließlich auch zunächst ‚wildfremde Personen‘ für Klient*innen“, sagt Daphne.
„Jede*r kann sein wie er*sie will und Sexualität so leben, wie er*sie möchte.“
Was ist für Tom und Daphne das Resümee nach Abschluss der Fortbildung?
„Mir ist noch deutlicher geworden, wie fundamental Sexualität im Leben ist. Wird das Thema ausgeklammert, wird ein wichtiger Teil der Lebensrealität übersehen“, fasst Daphne zusammen. „Die Fortbildung hat mein Selbstverständnis als Beraterin verändert. Im Laufe der Weiterbildung wächst man in eine neue Identität hinein. Vorher habe ich Sexualberatung gemacht, heute bin ich Sexualberaterin.“
Das Fazit von Tom: „Wir haben gelernt, genauer hinzuhören, was ‚zwischen den Zeilen‘ angedeutet wird, denn in vielen Gesprächen zu HIV und STI laufen hintergründig noch ganz andere Themen mit. Meine Gespräche dauern inzwischen länger, weil ich genauer nachfrage. Es geht mir darum, über Sexualität wertfrei zu sprechen und zu signalisieren: ‚Jede*r kann sein wie er*sie will und Sexualität so leben, wie er*sie möchte.‘“
Die Zusammensetzung der Weiterbildungsgruppe beurteilen beide als stimulierend und gewinnbringend: „Es war eine wahnsinnig nette Gruppe, meist Kolleg*innen aus anderen Aidshilfen, aber es war auch toll, dass Menschen aus anderen Einrichtungen dabei waren. Das Ganze war lustvoll, auch wenn vielleicht durch den ersten Durchlauf manches noch optimiert werden könnte“, sagt Daphne. Und auch Tom kann die Fortbildung weiterempfehlen: „Die Weiterbildung würde ich auf jeden Fall nochmal machen. Es hat Lust gemacht, all diese Dinge zu lernen. Wir waren unheimlich stolz, ein Teil dieses Pilotprojekts zu sein.“
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