Sexuelle Bildung für trans und nicht-binäre Menschen – Was ist das und warum braucht es das?

Jonas Hamm

Deutsche Aidshilfe veröffentlicht das erste Curriculum, das nicht über, sondern für trans und nicht-binäre Menschen sexuelle Bildung anbietet

Wann hast Du gelernt, wie Sex funktioniert? Wenn Du cis und heterosexuell bist und eine typische Sozialisation in Deutschland durchlaufen hast, dann hast Du vermutlich die „groben Fakten“ von deinen Eltern und Freund*innen sowie „anatomische Details“ in der Schule erfahren. Das eigentliche „Wie?“, nämlich was du persönlich magst , wie Du sexuell tickst, wie Du Dich selbst und Dein Gegenüber in Stimmung bringst, wo und wie Du und Deine*e Partner*innen gerne angefasst werden möchten, das hast Du vermutlich erst über Ausprobieren herausgefunden.

Vielleicht hast Du enge Vertraute, mit denen Du Dich gelegentlich über solche Dinge austauschst, vielleicht eher weniger. Dafür hast Du mit Sicherheit mediale Repräsentation mitgenommen – Sex-Szenen in Filmen und Serien, in denen immer alles wie magisch und ohne Kommunikation funktioniert. Oder Pornos, in denen zwar sehr explizite Bilder gezeigt werden, aber dafür das „Wie“, das Drumherum zu kurz kommt. Mit all diesen Dingen zusammen hast Du zwar ein vermutlich normatives und verzerrtes, aber doch recht ausführliches Bild davon mitgenommen, was Sex eigentlich ist und wie er „funktioniert“: Der Mann penetriert mit seinem erigierten Penis die Vagina der Frau. Feministisch formuliert: Die Frau zirkludiert (= umschließt) den Penis des Mannes.

Und jetzt stell Dir vor, Du bist trans oder nicht-binär.

Wenn Du relativ jung bist und wirklich progressive Sexualpädagogik in der Schule erlebt hast, dann wurden im Rahmen der Sexualpädagogik auch trans und nicht-binäre Lebensweisen behandelt. Das bedeutet: Du hast eine Aufklärungseinheit dazu erhalten, dass es trans und nicht-binäre Menschen gibt – und evtl. auch zu Diskriminierung von trans und nicht-binären Menschen oder dazu, wie sich das anfühlt, trans und/oder nicht-binär zu sein. Was darin mit Sicherheit nicht vorgekommen ist: wie Sexualität für trans und nicht-binäre Menschen funktioniert.

Das bedeutet, mit sexueller Bildung – oder dem Mangel davon – werden trans und nicht-binäre Menschen weitestgehend alleine gelassen. Denn die oben genannte Formel greift nicht. Der (trans) Mann hat gegebenfalls gar keinen Penis, dafür aber evtl. eine Vaginalschleimhautatrophie aufgrund einer Hormonersatztherapie (HET). Die (trans) Frau hat dafür unter Umständen einen Penis, aber vielleicht kein Bedürfnis ihn einzusetzen – oder Schwierigkeiten damit, weil es aufgrund der HET mit der Erektion nicht mehr so klappen will. Was überhaupt keine Schwierigkeit darstellen muss – denn auch mit einem weichen Penis lässt sich auf verschiedenste Arten und Weisen Sex haben – aber wie klappt das mit der Barrieremethode, wenn die Dick-Clit[1] zu weich ist, um ein Kondom zur tragen?

Dies sind nur ein paar wenige, offensichtliche Beispiele. Den gesamten Bereich nicht-binären Lebens (mit und ohne Transitionsschritten), Oral- und Analsex, sowie Sexualität mit chirurgisch geformten Neogenitalien, Phantomgliedern und externen „Add-Ons“ – z.B. Dildos – haben wir an dieser Stelle noch gar nicht erwähnt. Und natürlich begreift sich nur ein Bruchteil der trans und nicht-binären Community als heterosexuell. Trans Frauen können sexuelle Begegnungen mit cis Frauen, anderen trans Frauen, cis Männern, trans Männern und natürlich mit nicht-binären und intergeschlechtlichen Menschen haben. Und natürlich gelten diese Ausführungen analog für trans Männer und nicht-binäre Menschen.

Trans und nicht-binäre Menschen können langfristige monogame Beziehungen eingehen oder unverbindliche Sexdates bevorzugen. Oder eine Mischung aus beidem. Ein Bekannter von mir ist in einer verbindlichen Beziehung mit einer cis Frau UND geht regelmäßig auf schwule Sexpartys. Er und seine „Metamour“, die andere Beziehung seiner Beziehung, tauschen sich regelmäßig über ihre Safer Sex-Praktiken aus – damit alle im Polykül[2] sich sicher fühlen.

Kurz: Es gibt ein ganzes Universum sexuellen Lebens jenseits der cisgeschlechtlichen Norm. Und gerade, weil die Formel „Mann-penetriert-Frau“ – die übrigens auch für cis-heterosexuellen Sex viel zu kurz greift – nicht mehr gilt, sind trans und nicht-binäre Menschen gezwungen, sich individuell mit ihren sexuellen Wünschen und ihrem Begehren auseinanderzusetzen. Dabei gilt, ähnlich wie bei gleichgeschlechtlich liebenden Menschen, die Faustregel: ist eine so fundamentale Norm wie die „Unverrückbarkeit“ von biologischem Geschlecht erstmal durchbrochen, nehmen Menschen auch andere Normen rund um Sexualität und Geschlecht schneller kritisch in den Blick.

Was bedeutet das nun für Dich als Mensch in beratender Profession? Zuerst einmal braucht es ein Bewusstsein und eine Sensibilität dafür, dass es eine vielfältige Welt (oft) jenseits des individuellen Erfahrungshorizonts gibt. Sei offen, aber erwarte nicht von Dir, alles sofort zu wissen oder zu verstehen. Wenn Du tiefer einsteigen willst, empfehlen sich zum Einstieg die „Impulse für die Beratungsarbeit“ aus dem Büchlein „Trans und Sex“ (Hamm 2020) oder gleich der frisch erschienene Sammelband „Sexual- und Paarberatung mit trans und nicht-binären Menschen“ (Hahne/Haskamp 2025), beide im Psychosozial-Verlag erschienen.

Und was brauchen trans und nicht-binäre Menschen in Bezug auf sexuelle Bildung? Die 2023 veröffentlichte Studie „Sexuelle Gesundheit und HIV/STI in trans und nicht-binären Communitys“ (DAH und RKI 2023 sowie RKI und DAH 2023) liefert Antworten hierauf: Allen voran braucht es einen Raum, in dem sich trans und nicht-binäre Menschen in einem geschützten Rahmen untereinander zu Sexualität austauschen können. Darüber hinaus benötigen sie fachlich verlässlich recherchierte Informationen, die auf die spezifische Situation von trans und nicht-binären Menschen zugeschnitten sind. Und sie brauchen Empowerment in Bezug auf die spezifischen Vulnerabilitäten, die trans und nicht-binäre Menschen aufgrund einer transfeindlichen und cisnormativen Welt – und dem damit einhergehenden Minoritätenstress – empfinden.

Die Deutsche Aidshilfe hat aus diesen Gründen mit dem Projekt „Sexuelle Bildung in trans und nicht-binären Communitys“ (SeBiCo) ein Curriculum entwickelt, das einerseits Konzepte und Übungen für Empowerment-Workshops zu sexueller Bildung für trans und nicht-binäre Menschen beinhaltet, das aber andererseits vor allem auf die Ausbildung von Multiplikator*innen fokussiert. Mithilfe einer Train-the-Trainer-Seminarreihe sollen trans und nicht-binäre Menschen die Skills an die Hand gegeben werden, Empowerment-Workshops zu sexueller Bildung für andere trans und nicht-binäre Menschen zu halten. Dabei fokussiert das Curriculum darauf, einen Raum für Austausch zur Verfügung zu stellen und adressiert insbesondere Themen rund um Haltung, wie Intersektionalität und lebensweltakzeptierende Arbeitsweisen.

Das SeBiCo-Curriculum gliedert sich in einen Theorieteil sowie sechs Module mit jeweils einem Hintergrundtext, Methodenbeschreibungen und Arbeitsblättern. Zwei Module, Intersektionalität und Teamer*innenskills, richten sich ausschließlich an Multiplikator*innen. Die anderen vier Module, Let’s talk about Sex, Sexuelle Gesundheit, Körper(erleben) sowie Konsens und Verhandlungskompetenz, beinhalten auch viele Methoden und Übungen die von den Multiplikator*innen direkt in ihren Workshops mit anderen trans und nicht-binären Menschen angewendet werden können.

Das SeBiCo Train-the-Trainer-Curriculum wurde 2024 von der Deutschen Aidshilfe in einem Pilotjahrgang getestet und geht Anfang 2026 in die zweite Runde. Es wird vier Seminarblöcke von jeweils drei Tagen in Präsenz umfassen (Donnerstagabend bis Sonntagmittag) und das Programm wird im Vergleich zum Pilotjahrgang nochmals etwas ausgebaut werden. Die Auswahl- und Bewerbungsphase läuft derzeit, bis vorerst 15.10.2025. Interessierte können sich auf aidshilfe.de/SeBiCo informieren.

[1] Dick-Clit ist einer der Community-Begriffe für einen weiblichen Penis.

[2] über Paarbeziehungen hinausgehende Geflechte von Liebesbeziehungen